Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
kommenden Kriegsläuften des Toggenburgs wegen, und man redete viel von Austrag und von Rache für Villmergen und Kappel, und der Lärm fand auch im Waserschen Hause Widerhall und führte manche Vermehrung amtlicher Arbeiten herbei.
Anna half ihrem Vater treulich, und dieser gewahrte in geheimem Staunen, wie sie mit immer wacherm Anteil und lebendigerer Sorge ihr Werk tat, und freute sich an der klugen und einsichtigen Art, damit sie auch denen politischen Ereignissen folgte, umsomehr, als er mit seinen beiden Söhnen davon zu reden nur wenig Gelegenheit fand; denn auch Heinrich, der seine Examen mit Auszeichnung bestanden hatte und nun vielerorten im Land herum aushelfender Weise bei kranken und sonst verhinderten Pfarrherren betätigt wurde, war im väterlichen Hause nur mehr ein seltener Gast. Der Amtmann aber liebte es, auch in der eigenen Stube von den äußern wichtigen Begebenheiten Anklang und Wirkung zu verspüren und ein Urteil zu hören, das über die gewöhnlichen Klagen, Neugierden und Befürchtungen hinausging, darin sich sonst das Frauenzimmer erschöpfte, sobald von Krieg und Waffenlärm die Rede war. Und bei Anna fand er solches und mehr noch, eine sichere, selbständige Meinung, die ihn erstaunte, wenn sie ihn auch nicht immer freute; denn als sie über die Wahl des edeln Obmann Bodmer zum Oberbefehlshaber der zürcherischen Truppen ein besorgtes Gesicht machte und meinte, an solch verantwortungsvollen Posten sollte man klare Leut stellen und keine Schwarmgeister, kam ihm derlei Kritik dem hochmögenden Manne gegenüber doch vermessen vor. Denn Anna verschwieg es, daß sie von Heinrich her wußte, wie dieser einflußreiche Mann insgeheim den Pietisten und Tremulanten ein eifriger Anhänger war. Insbesondere aber fühlte sich Herrn Wasers zürcherisches Herz verletzt durch die Art, wie Anna denen Bernern die Stange hielt zu einer Zeit, da doch wegen ihrer Saumseligkeit und langsamen Zurüstung ganz Zürich aufgebracht war und man allenthalben viel Spott und Verdächtigung gegen die langsamen Bundesgenossen ausstreute. „Schnell fertig sind sie wohl nicht, die Berner,“ hatte sie einmal gesagt, „aber auch leichtfertig nicht, und daß sie keine Arbeit nicht lassen, sie seien denn ganz fertig, darauf kommt’s doch wohl an.“ Ganz schlimm aber war, was sie über die zürcherischen Truppen redete, selbigsmal, da man einem Auszug beiwohnte: „Seht, Vater, wie untapfer sie schreiten,“ hatte sie gesagt, mit einem Ton, daß der Amtmann seines seligen Bruders gedenken mußte, ob diese Worte gleich aus einem zarten Mund kamen, „und wie die Musica klingt, weiß Gott, zögernd und trübselig wie Abschiedsgesang. Wann da nicht bald der Bernermarsch hineinfährt und die schlampigen Schritt richtet und die Köpf klärt, dann gnad Gott unserer Sach!“ Grad weil er fühlte, daß eine bittere Wahrheit drin war, gaben dem Amtmann diese Worte schier einen Zorn gegen die Tochter.
Aber als die Ereignisse ihrer Meinung mehr und mehr Recht gaben, als man in den unsichern Frühlingstagen wohl Grund bekam, die Wahl des obersten Leiters zu bereuen, und als es schließlich eine Berner Faust war, die das Siegesbanner von Villmergen aus einem bösen Kampf herauszog, sah der Amtmann oft mit stillem Staunen auf seine Tochter und in einem Stolze, von dem freilich keiner was bemerkte.
In eben jenen bangen Frühlingstagen aber war es, daß Anna plötzlich und wie aus einem notwendigen Vollzug unbewußter geheimer Vorgänge den Mut zum alten Leben und zu neuem Tun fand; denn als einmal zwischen endlos gereihten naßkalten Maientagen unversehens ein sonnenheller Morgen erschien, kam es sie auf eins an, daß sie mit zitternden Händen ihr altes Elfenbeinkästchen und Rohr und Papier hervorsuchte und verstohlen und ohne daß jemand es gewahrte, aus der Stadt entfloh, nach jenen Höhen des Zürichberges, wo ihr einst an einem blütenüberströmten Maitag eine neue Erkenntnis aufgegangen war.
Als sie freilich zur Kollation zurückkehrte, schon wieder unter neuen drohenden Regenwolken, klopfte ihr Herz minder freudig als bei dem heimlichen Ausgang am Morgen. Der erste Versuch hatte bloß Enttäuschung gebracht und die schmerzliche Einsicht, daß man nicht ungestraft solange von vertrauter Übung abläßt. Entmutigt ließ sie eine Weile die Dinge wieder ruhen. Aber dann versuchte sie es neuerdings, ruhiger und mit mehr Ausdauer und an vertrautern Gegenständen, und als der Sommer auf der Höhe stand und die ganze Stadt erfüllt
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