Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
weiß ich, daß es Heilige gibt und göttlich Wunder, so groß, in der Heiligen Schrift stehen keine größeren verzeichnet!“
Sie aber dachte daran, daß schon einmal an diesem endlosen Tage einer dermaßen vor ihr gekniet und sie eine Heilige genannt hatte, und ein Grauen schüttelte sie.
„Nein, nein,“ rief sie erschreckt, „das redest du sündhaft, keine Heilige nicht, bloß ein armer, verwirrter Mensch, der sich vom rechten, vorgezeigten Weg verloren und also an einen Abgrund, an ein betrübt und falsch Ende geraten!“
Sie richtete den Bruder auf und erhob sich: „Nun müssen wir hinunter, es ihnen sagen, bevor es ein anderes mit häßlichen Worten fürbringt!“ Und sie faßte Heinrich unter dem Arm und schritt mit ihm nach der Türe, und da dieser fragend auf die gefüllten Körbe deutete, lächelte sie ein wenig: „Für das Estherlein,“ und verließ dann still das Zimmer.
Aber unten auf der zweiten Treppe mußte sie einen Augenblick anhalten, und ihre Hand zitterte auf des Bruders Arm. Da hatte es den Anfang genommen, das war die Stelle, wo die beiden sich zuerst umfangen, im Scherz noch und vermeintlichen Haß; aber dann war es gekommen, unaufhaltsam. Noch einmal zog sich die Brust zusammen im heftigsten Schmerz. Mußte sie nun über diese grausame Stelle gehen, jeden Tag, jeden Tag? Aber die tröstliche Gewißheit stand wieder auf, daß den Tagen ein Ende war und der stille Erlöser kommen mußte, irgendwoher und bald — und ruhigen Schrittes ging sie die Stufen hinunter, wie eine, die ihres Weges sicher ist.
Aber der Erlöser kam nicht. Wohl neigte sich der schwarze Vogel über sie, von dem Maria einst geredet, mit ungeheuren Schwingen, darunter der Atem vergehen wollte, und mit grausamen Krallen, darunter das Herz zu verbluten meinte, und die schlaflosen Nächte und langen trostlosen Tage ermatteten ihre Kraft, daß sie welkte wie eine Blume ohne Wasser; aber keine Krankheit kam aus den Qualen und zog sie trostreich in ihre löschenden Arme. Und als ein Fieber im stillen Hause Einkehr hielt, ging es an ihr vorüber und ergriff die zarte, schwer heimgesuchte Mutter und setzte Anna als Pflegerin ans Krankenbett. Und als die Mutter sich wieder erholte, da fiel es Anna auf, wie gebückt der Vater einherging und wie alt er geworden in der letzten Zeit, und es kam ihr zu Sinn, wie ihm mit neuen Würden immer neue Arbeiten auferlegt worden und daß er wohl der Hilfe bedurfte, und daraus verstand sie, daß ihre Zeit noch nicht gekommen war.
Viele Stunden des Tages saß sie nun in des Vaters Arbeitsstube und schrieb für ihn, ohne Trieb und ohne Freude, aber mit einem steten Fleiß, darin das gemarterte Herz nach und nach eine Ruhe fand, und wenn es auch keine schöne Ruhe war, sondern die stumpfe Stille des Totenhofes, es bedeutete doch einen Stillstand und ein Ausspannen, darin die entwurzelten Kräfte allgemach wieder einen Boden fanden.
Aber einmal im Frühjahr begab es sich, daß Elisabeth auf ein kurzes, ungefährliches Krankenlager kam und Anna an ihrer Statt vorübergehend die Schule übernehmen mußte. Fast erschrak sie darob; denn seit jenem Tage hatte sie allen Verkehr geflohen, wie sie die freie Natur geflohen und ihr eigenes verödetes Malzimmer, wo die Farben eintrockneten und die Geräte verstaubten. Doch der Schwester zuliebe übernahm sie die Arbeit. Erst zaghaft, aber dann mit wachsender Teilnahme und einem schier freudigen Staunen. Nach und nach erkannte sie im Verkehr mit diesen kleinen Menschen, die dem Leben frisch und mit unwissenden Augen gegenüberstanden, daß es noch Neuland gab, von Erlebnissen ungepflügt und von keinerlei Erinnerungen überwuchert. Eine Ahnung kam ihr von der neuzeugenden Kraft der unbepflanzten Scholle und rührte etwas auf, daß es nicht ganz so tot mehr war in ihr, und einmal, an einem ganz hellen und lachenden Tag, ließ sie sich von der kleinen Schar zu einem Spaziergang vor die Tore bewegen. Und wenn auch beim ungewohnten Anblick des blühenden Landes viel Schmerzhaftes über sie hereinbrach, daß sie zuerst beinahe zurückgeflohen wäre, die Macht des Gegenwärtigen fand schließlich doch die Oberhand, und da sie unwillkürlich mit den Augen der Kleinen schaute, die sie mit viel Fragen und Hinweisen umdrängten, entdeckte sie selbst in der erinnerungsschweren Welt allerlei Neues, Ungetrübtes, das mählich das Andenken köstlicher, unverbrauchter und unverletzter Zeiten aus ihrem Leben heraufführte, und vor ihren erstaunten Augen reihten sie
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