Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
der Sonne und die Augen brannten von all dem Glast und wann dann der rote Abend vorüber war und plötzlich hinter dem Berg das rundweiß Gesicht herfürkam mit den großen Augen, oh, wie kühl es dann wurde und wie still! Und man fühlte, daß der Mond zu einem gehört und daß er alles sieht, und man wurde so andächtig wie in der Kirche. Oft liefen wir auch nach der Kapelle hinüber, wann der Mond aufging, dieweil es hieß, daß im Mondschein der steinerne Toggenburger Ritter lebendig würde. Das hätte ich gar zu gern gesehen; er dauerte mich so, daß er immer daliegen mußte, ganz steif. Einmal sah ich denn auch, daß er die Augen öffnete, und da bin ich schier erschrocken; sie schauten mich grad an. Der Vater sagte zwar nachher, das sei eine Täuschung gewesen; aber ich kann es nimmer vergessen, wie er mich ansah mit den großen traurigen Augen und dazu so starr dalag.“ Sie blickte in den Vollmond hinein, daß ihr Antlitz schimmerte. „So ein wohlgemut lieb Gesicht und so mild, so rein!“
Sibylla sprang auf. „Ach ja, so bist du, fromm, rein und kühl! Und deshalb siehst auch die Welt so kühl und so fromm. Ah, wann ich so klug wär’ wie du, dann hätte ich vielleicht auch so ein Herz wie dieses dort“ — sie wies nach dem Bett hinüber, wo im schwarzen Schatten das weiße Mondscheinherz der Stabelle lag — „so weiß, so rein, so unberührt. Nun aber ist mein Kopf schwach, und alles, was ich habe, hat sich in mein arm Herz geflüchtet, und so ist es voll und heiß und will zerspringen. Ach, Anna, was soll ich tun mit meinem armen siechen Herzen!“
Sie warf sich mit Ungestüm der jüngeren Freundin an den Hals, die vom Fenster weg zu ihr hingetreten war, und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus.
Steif und unbeholfen stand Anna da. Kein liebes Wort und keine zärtliche Liebkosung fiel ihr ein. Ihr war bang zumute und schamhaft, als ob sie in ein Geheimnis hineinschauen sollte, das nicht für sie war und das Schlimmes barg.
Sibylla ließ sich wieder auf die Bank nieder, enttäuscht und leise zitternd. „Verstehst du mich denn gar nicht, Anna, gar nicht?“ Und als diese wiederum den Kopf schüttelte: „O doch, du verstehst mich, du willst nur nicht, du bist zu klug dazu und zu edel; aber ich sah es doch, wie du ihn heute anschautest, fast teilnahmsvoll, als er mir mit schnödem Wort den Rücken wandte, und wie du mit ihm gingst, Hand in Hand, und andächtig seiner Rede lauschtest … O ja, jetzt weiß ich es ganz genau, auch du liebst Giulio, trotz deiner Kunst und allem!“
Anna fuhr auf: „Schäm dich, Sibylla! Ja, ich habe Giulio gern, weil er mir leid tut, und wann ich nicht Rudolf hätte, ich würde vielleicht sagen, gern wie einen Bruder; aber so ist es doch nicht. Wann du aber etwas anderes meinst — für mich oder dich — Sibylla, das wäre ja abscheulich, eine Sünde wär’s! Du weißt doch, er hat eine Liebste; für sie hat er das unglückliche Duell getan, um ihretwillen ist er geflohen und ist er gar so unglücklich hier. Das alles weißt du, dieweil du mir’s ja erzählt, und nun kannst solches sagen?“
Sie stand aufrecht mitten im Mondlicht, und ihre Augen waren schwarz. Sibylla hatte die Freundin niemals so gesehen. Sie erschrak, und eine große Angst kam sie an. Ach, die büßende Magdalena, da sie dem Herrn die Füße wusch mit ihren Tränen, konnte nicht elender sein in ihrer Zerknirschung. Sie legte den blonden Kopf auf die nackten Arme und stöhnte. Und dann kam eine Lust über sie, die Erniedrigung voll zu machen, grad vor diesen schwarzen strafenden Augen. „O ja, Anna, ich weiß, ich bin schlecht, aber kann ich dafür? Sieh, ich liebe ihn so: ich möchte mich vor ihm hinlegen und sagen: Geh über mich weg, zertritt mich, tu mir weh, es wird mir wohltun, deinen Fuß zu spüren und deines Körpers Last; denn deiner Füße Spur ist mir Heiltum.“
„Sibylla!“ Anna ergriff das Mädchen an beiden Schultern und schüttelte sie heftig. „Um Gottes willen, Sibylla, sprich nicht so, sonst kann ich dich nimmer liebhaben. Oh, wie kannst dich so wegwerfen, einen lieben, der einer andern gehört, und gar so lieben — und einen, dem du gleichgültig bist!“
Sibylla fuhr zurück, und als Anna jetzt in ihr Gesicht blickte, bereute sie schier ihre Heftigkeit, so erbarmenswert sah es aus, so blaß mit den weit aufgerissenen erschreckten Augen.
Sie zwang sich, gut mit ihr zu sein und ihr in ruhigen und verständigen Worten zu zeigen, wie sündhaft solche Gefühle
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