Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
grausam und elend starb, und vom Apoll, der auf dem Mittelpunkt der Erde thront und mit Bogen und Leier, durch Kraft und Schönheit die Erde beherrscht.
Das war der Anfang, und dann ging es weiter von Münze zu Münze. Anna lernte die zarten Dinger mit feinfühligen Fingern anfassen und mit noch feinfühligeren Augen abtasten, lernte die mannigfaltige Sprache dieser Bilder begreifen, und unter Herrn Morells klaren und begeisterten Worten öffnete sich vor ihren Blicken mählich eine neue Welt, unendlich in ihrem Reichtum, schier unbegreiflich in ihrer vieldeutigen Schönheit. Ja, wer es verstand, wie Herr Morell, in diesen unscheinbaren Zeugen zu lesen, das Schicksal großer Könige und ganzer Völker entrollte sich vor ihm und die tiefsten Gedanken großer toter Zeiten, ihre Kunst und ihre Religion.
„Seht,“ sagte Herr Morell nicht ohne Rührung, „die berühmten Bildwerke, von denen ein Plinius und Pausanias erzählen, sind lange tot, aber diese kleinsten Werklein einer unbekannten Hand sind zu uns gekommen und sagen uns mehr von den großen Zeiten denn alles andere. So kommt gar oft das Kleine zu Bedeutung, derweil das Große vergeht, und es ist recht, daß in der Kunst nun auch die Miniatur zu ihrem Ruhme gelangt, solche bescheidentlich und ohne prahlende Gebärden, aber fein und aufs köstlichste sich erzeigt.“
Als die resolute Magd zum Essen rief, erschienen Meister und Schülerin mit geröteten Köpfen und leuchtenden Augen, und der junge Sohn, der mit am Tische saß, hatte es nicht schwer, seine Einsilbigkeit zu bewahren, so lebhaft gingen die Reden, Herrn Morells Erzählungen und Annas Fragen über seinen unbeachteten Kopf hinweg.
Aber am Nachmittag holte Anna ihr Elfenbeinrohr herbei. „Jetzo, Herr Morell, möcht’ ich etwan versuchen, eine Münze nachzuzeichnen. Gebt mir Eure Syrierin, die mir zuerst in die Augen stach, und etwas Zeit; aber laßt mich derweil allein und kommt — mit Verlaub — nicht eher, als ich Euch rufe, mit nachsichtigem Gemüt und nicht allzu kritisch zurück.“ Und während sie zeichnete, mit fiebrigen Händen und doch sicher den feinen Silberstift führend, setzte sich Herr Morell mit einem Buch in den Garten, nicht ohne Ungeduld und nicht ohne ab und zu neugierig durch das niedrige Fenster ins Zimmer zu spähen.
Endlich wurde er hereingerufen. Er betrachtete ernsthaft die feine Zeichnung; dann drückte er Anna die Hand: „Liebste Waserin, das ist ja fürtrefflich! Nicht allein habt Ihr nichts verschwiegen von dem, was dasteht. Ihr habt auch das herausgefunden, was nicht mehr da ist und was die Zeit und greifende Händ weggewischt. So hat mir noch keiner die Münzen begriffen, auch der geschickte Stettler nicht. Er hat zwar treulich wiedergegeben; aber Ihr tut mehr. Ihr schafft neu, was einst gewesen. Seht den Apoll auf dem Omphalos: bei Stettler würde er nun halt so dasitzen; aber Euer Apoll, der wird aufspringen im nächsten Augenblick und den Pfeil loslassen, und so auch ist es gemeint. Wenn Götter ruhn, so tun sie es nicht anders denn im Spannen neuer Kräfte … Warum bloß,“ fügte er bei, „habt Ihr die Schrift weggelassen?“
„Ich mag nicht kopieren, was ich nicht verstehe; ich kenne die griechischen Buchstaben nicht und sollte sie erst lernen,“ erwiderte Anna kleinlaut.
„Da habt Ihr recht, nichts Unverstandenes; aber bloß die Buchstaben?“ Herr Morell schüttelte den Kopf. „Das genügt nicht. Buchstaben sind nichts. Ihr sollt sie auch tönen hören. Seht, so!“
Er öffnete das Buch in seinen Händen und las mit einer zarten und gleitenden Stimme, die Anna sonst nicht an ihm kannte. Wie seltsam das klang, so fremd, so fremd! Nicht ein Laut, der ihr als etwas Vertrautes ins Ohr drang. Und doch war es herrlich, wie eine große ewige Melodie. Sie mußte an Waldesrauschen denken und an die grünen schaumspritzenden Wellen der Aare. Aber auch an wundervolle Stoffe, Purpur mit Gold durchwirkt, wie sie es einst an einer französischen Edeldame gesehen, und an blaue Luft und Seide, an etwas sehr Wunderbares, sehr Herrliches, sodaß ihr die Tränen in die Augen kamen.
Herr Morell klappte das Buch zu und blickte Anna an: „Kind, Kind, so gerühret und doch bloß die Töne!“ Nun sprang auch ihm etwas in die Augen. Er eilte auf Anna zu, schloß sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirne, inbrünstig und bewegt. „Wahrlich, Ihr sollt sie verstehen lernen, diese Töne! Wer sonst verdiente diese göttliche Sprache, wenn nicht Ihr, da allein
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