Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
oder fiel kühlend über ihren Pfad. Aber dann traten plötzlich die Schatten dichter zusammen und schlossen sich um ein sonderbares Haus, das mit abenteuerlicher Fassade und den Spuren allerlei halbverwaschener Malereien aus einem dunkeln, friedlich gefügten Obstwald hervorschaute. Anna öffnete das Gartentürchen und schritt etwas zögernd über den schmalen Weg, der von hüben und drüben mit hellroten Röslein überhangen war. Bevor sie das Haus erreicht hatte, ging die Türe auf, und Herr Andreas Morell eilte ihr mit frohem Gruß entgegen.
Trotz der ländlichen Umgebung war er auch heute aufs akkurateste gekleidet, mit sorgsam frisierter Allonge und feingesticktem Kragen, und die winzigen Schnallen seiner Schuhe blitzten, wie er über den sonnigen Weg herunterkam. Mit einer allerzierlichsten Reverenz trat er vor Anna hin, ergriff dann aber mit Herzlichkeit ihre freie Hand.
„Liebste Waserin, scharmant, scharmant, daß Ihr zu so früher Stunde schon erscheint! Und wie gefällt Euch nun meine Sommerresidenz?“
Er zog Annas Hand galant durch seinen Arm und ging mit ihr rund um das Haus herum, wo in kleinen Beetchen allerlei bunter und duftender Sommerflor stand und der Blick zwischen Obstbäumen durch nach allen Seiten in die Ferne ging.
„Ach, wie schön, wie herrlich!“ rief Anna entzückt. „Und diese Luft!“
„Ja, die Luft besonders,“ stimmte Herr Morell bei; „so etwas weiß man zu schätzen, wenn man monatelang den Geruch der Bastille genossen hat. Seither tendiere ich immer ins Freie und habe deshalb die Einladung eines Freundes, die kurzen Sommerwochen in seiner leeren Wohnung hier zuzubringen, umso lieber angenommen, als einem so nah an der Stadtmauer auch die städtischen Bekömmlichkeiten nicht mangeln. Ja, es ist schön heraußen, schön genug, um alle Trübsale zu vergessen.“
Anna sah voller Bewunderung zu dem Manne auf, der die Gunst und ungerechte Verfolgung des großen Königs erfahren, der höchsten Ruhm, schwere Gefangenschaft und bitterste Verluste durchgemacht hatte und der nun da mit frischem Gesicht und jungen Augen neben ihr ging, als ob sein ganzes Leben diesem schönen Sommermorgen geglichen. Und wer hätte dem liebenswürdigen Herrn mit dem fast kindlichen Zug um den Mund seine große Gelehrsame angesehen!
Lächelnd fing Herr Morell Annas bewundernde Blicke auf: „Ja, das kann nun wohl so ein kleines Fräulein nicht eben begreifen, daß einer aus dem Gefängnis kommen und doch noch so leichtfertig sein kann. Aber seht,“ fügte er mit seltsamem Leuchten in den Augen bei, „wer in die Welt der Alten hineingeblickt hat, dem können so ein paar Mauern und ein paar Injustices noch lang nicht die Sonne verleiden. Vielleicht lernt meine Schülerin das auch noch begreifen.“
Sie hatten ihren Rundgang vollendet und wollten eben das Haus betreten, als ihnen unter der Türe lang und blaß der junge Morell entgegenkam, sich aber nach einer scheuen und linkischen Begrüßung wieder schleunigst zurückzog.
„Da habt Ihr meinen Herrn Sohn,“ lachte Herr Morell, „das rechte Gegenstück zu seinem Vater: vor schönen klugen Jungfrauen und alten Münzen nimmt der Reißaus. Dafür hat die Gottesgelahrtheit es ihm angetan. In Gottes Namen, chacun à son goût 8 . Seinen Schrecken vor den Münzen aber hat er wohl von der Mutter, die hatte auch solchen Widerwillen gegen alles Antikische.“ .
Drinnen öffnete Herr Morell mit viel Umständlichkeit eine Truhe und entnahm ihr eine Reihe kleiner Kästchen, deren Inhalt er mit spitzen, zarten Fingern und sichtbarer Wonne vor Anna ausbreitete: kleine, unregelmäßig runde, grünschwarze Metallstücke, zwei glänzend gelbe und eine Unmasse weißer Abgüßchen in Gips, sorgfältig zu zweien geordnet. Ziemlich ratlos stand Anna vor dem fragwürdigen Schatze; da fiel ihr eine der Münzen auf mit einem feingezeichneten wilden und schönen Männerkopf. Sie nahm sie in die Hand und entdeckte auf ihrer Rückseite ein allerzartestes Bild, eine nackte sitzende Jünglingsgestalt mit Bogen und Pfeil, und so wundervoll die geschmeidigen Linien des elastischen Körpers.
„Schau einer das feine Näschen!“ rief Herr Morell entzückt. „Gerade die feinste habt Ihr herausgegriffen auf den ersten Blick, meine wundervolle Syrierin, meinen Stolz! Und natürlich findet die kleine Muse gleich einen Apoll!“ Und dann erzählte er mit bewegten Worten von dieser Münze, vom großen Antiochos, dessen Bild sie trug, der so groß und grausam lebte und so
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