Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Sorellina ein wenig Angst gehabt um mich?“
„Das war nicht das Benehmen eines Kavaliers,“ antwortete Anna zürnend, „das war einfach kindisch; schaut einmal da hinunter!“
Nun beugten sich beide über die gewaltige Mauer, die sich jäh und grauenhaft in die Tiefe verlor, und blickten nach dem Stadtteil hinunter, der dort spielzeughaft winzig mit vielgestaltigen Dächern und abenteuerlichen Gäßchen zwischen der breiten Aare und dem unermeßlichen Gestrebe der Riesenmauer eingeklemmt lag.
„Nun, wenn auch,“ entgegnete Giulio leichtfertig und mit einem heimlichen Blick nach Anna, „was wär weiter dabei, wenn ich da hinuntergeflogen?“
„O doch,“ gab diese mit absichtlicher Trockenheit zurück; denn sie fühlte, daß Giulio ein liebes Wort von ihr wollte, und darauf ließ sie sich nicht ein, „o doch; denn wer weiß, was Ihr mit Eures Körpers Last dort unten angerichtet hättet, am End gar so ein armes Kätzlein erschlagen, das eben unschuldig auf einem der Dächer seinen Abendspaziergang machte!“
Mit einer entschiedenen Bewegung, die dem Gespräch ein Ende machte, richtete sie sich auf und blickte nach den Alpen hinüber. Wie das heute wieder strahlte und leuchtete, beinahe wie an jenem ersten Abend, wo ihr das Herz fast weh getan ob der ungekannten Pracht. Nun war ihr das alles schon vertraut und doch immer noch so neu. An das ganz Schöne gewöhnte man sich nie, es war immer wieder ein neues Wunder.
So etwas sagte sie Giulio, der langsam ihren Blicken gefolgt war. Aber er schüttelte leise den Kopf, und nun war auch wieder das Traurige in seinen Augen. „Ich weiß eine ganz andere Schönheit, Sorellina. Ach, unsere Berge daheim, so weich in ihren Linien wie ein wehmütiges Lied, das in den Abend verklingt, am blauen Himmel hingehaucht. Und dann wieder stolz, so stolz mit den weißen Marmorstädten auf den feingeschwungenen Höhen und so vornehm und so sehnsüchtig. Immer muß der Blick mit ihnen wandern, weit, weit ab und nirgends ein Ziel. Aber hier diese rauen Wände, starr und schroff und kalt, Mauern, nichts als Mauern sind es, die sich hinstellen und die armen Blicke abgraben: Wo ist nun dein Italien? Ja, als ich sie zum ersten Mal sah, da habe ich auch anders darüber gedacht. In meiner Heimat, in Bologna, von dem Berg aus, der das Bild der Jungfrau von des heiligen Lukas Hand trägt, hab’ ich sie zuerst geschaut. Es war ein wundervoller Tag, sodaß man ganz Lombardien überblicken konnte. Zu Füßen mein Bologna, rosenrot mit den unwahrscheinlichen Türmen, und dann weithin die Ebene, ah, so groß, so unendlich wie die Welt, und ganz zu äußerst, am Himmelsrand etwas Hohes, Schimmerndes, Unfaßliches, als ob der Thron Gottes dort mit güldenen Füßen die Erde berührte. Sie sagten mir, es seien die Alpen. Und hab’ ich mir was anderes vorgestellt denn diese schroffen kalten Wände, die einem so schmerzlich die Welt verriegeln.“
Giulio sprach Italienisch, wie immer, wenn er mit Anna allein war und wenn er von seiner Heimat redete. Erst mit raschen und leidenschaftlichen Worten, die dann immer weicher und wehmütiger wurden und zuletzt schmerzlich verklangen wie ein schwermütiges Lied. Es waren mehr Selbstgespräche, die keine Antworten und keine Zustimmung erwarteten. Anna wußte es. Ganz still lehnte sie sich an den kühlen Pfeiler des kleinen Eckpavillons, der auf dieser Seite die Mauer flankierte, und hörte ihm zu. Sie liebte es so sehr, dieser sonderbaren Musik zu lauschen, die ihr die herrlichsten Bilder heraufführte. Italien war ihr schon lange kein bloßes Traumland mehr; fast wie eine zweite Heimat erschien es ihr, die sie irgendwann, in ganz fernen Zeiten geschaut und geliebt hatte. So oft hatte Giulio davon erzählt, und so lebendig, und wie sie sich darnach sehnte, wie man sich nur nach einer so früh gekannten und geliebten Heimat sehnen konnte. Aber heute war noch etwas Besonderes in seiner Stimme, so etwas Verhaltenes, ein seltsames Zittern. Wie da alle Farben einen Schmelz bekamen und alle Fernen einen Duft! Es war, als ob Giulios Reden einen Zauberkreis um sie zögen. Alles Nahe wurde fern gerückt. Die Pracht der roten Berge und das frohe Treiben um sie, wo war es hin? Und die fernen Bilder kamen heran, greifbar und wundersam ergreifend, und nur der Duft der Linden mischte sich damit süß und bedrängend …
„Wer könnte glücklich sein, der jene Stätten nicht gesehen, und wer, der sie nicht mehr sehen kann? Und was Schönheit ist, wer wüßte es?
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