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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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seien, und vor allem, wie erniedrigend und beschämend solch unerwiderte Liebe.
    Aber Sibylla schüttelte nur leise den Kopf. „Alles, alles ist mir gleich, er soll es nur wissen, daß ich ihn liebe, ja, ich möchte, daß er wüßte, wie ich ihn liebe, mehr denn alle andern auf der Welt, mehr auch als diese Italienerin, die ihn so allein in die Fremde ziehen ließ und ihm so selten berichtet Ach, wann er es wüßte, dann würde er wohl einen freundlicheren Blick für mich haben, so wie früher, oder liebe Worte, und dann später einmal würde er daran denken: Keine hat mich so sehr geliebt wie sie, und würd’ sich vielleicht gar einmal darnach sehnen nach meiner großen, großen Liebe. Mehr will ich nicht, ach, ich bin ja mit so wenig zufrieden!“
    Anna antwortete nicht mehr. Sie wandte sich wieder zum Fenster, und während Sibylla mit offenen Augen leise vor sich hin weinte wie ein krankes Kind, blickte sie in die Nacht hinaus. Schwarz und weiß lag die Welt vor ihr; die durchsichtigen Frühlingsschatten waren verschwunden, und unter der Bäume undurchdringlichem Laubdach brütete die schwarze Dunkelheit schwer und beängstigend. Ihr war, als ob auch auf ihr Leben solch dicker Schatten sich gelegt hätte. Etwas Reines lag jetzt beschmutzt. War dieses Mädchen mit den wilden, fremden Gefühlen ihre Sibylla, die frohe, feine Sibylla, die sie so geliebt? Und Giulio, sollte der recht behalten mit dem schlimmen Wort? Sie hätte schreien mögen und toben wie damals, da sie mit häßlichem Mörtel ein Engelsantlitz überschmierten; aber sie blieb ganz still, wie gelähmt. Wo war die furchtbare Macht, die Menschen also verändern und herunterziehen konnte? Liebe, das war ein viel zu schönes Wort dafür. Liebe, die hatte doch ein klares, tiefes Gesicht und eine weiche gütige Hand — aber das hier, das, was Giulio zum Mörder gemacht und Sibyllas reines Herz vergiftete, was war das? Und ein Grauen erfaßte sie vor dem Unbekannten, Schrecklichen.
    Da vernahm sie drunten ein leises Knarren, wie von einer Türe. Sie erschrak. Das war Giulio, der sein Zimmer verließ und in den Garten trat. Wann er nur heute nicht singen wollte. Nur heute nicht! Sie spähte hinab. Da sah sie seine dunkle Gestalt auf der kleinen Mauer. Der Mond floß über ihn. Ja, er hielt die Laute im Arm. Sie beugte sich weit hinaus, um sich bemerkbar zu machen und ihn am Spielen zu hindern; aber da sah sie, daß er abgewendet stand, das Gesicht nach der Ferne gerichtet. Und nun klangen schon die ersten zagen Saitentöne zu ihr herauf. Und nun die Stimme, weicher und erschütternder denn je und so traurig, so grenzenlos traurig.
    Anna preßte den Kopf an die Fensterbrüstung und schloß die Augen. Sie wagte nicht zu Sibylla hinüberzublicken. Und Giulio sang, leise schleppende Kadenzen, die dann plötzlich am Ende der Strophen mit einem dumpfen Ton abbrachen. Es war wie ein Weinen, wie ein Weinen.
    „Wann ich einst tot bin.
Deckt Staub mich Armen,
Führt dich wohl zu mir hin
Ein still Erbarmen?
    Sieh, wie der Mond so weiß
Über mein Grab geht,
Denk, wie verlangend heiß
Um dich mein Herz fleht.
    Daß ich im kalten Grab
Nach dir mich sehne —
Dringt wohl zu mir herab
Leis eine Träne?
    Bringt wo ein weicher Wind
Den Duft von Rosen,
Fühlst du im Nacken lind
Ein heimlich Kosen?
    Spürt dann dein Seidenhaar
Zitternde Küsse,
Weiß, daß es immerdar
Mit gehören müsse …
    Und weil ich tot bin.
Im Grab gefangen,
Zieht dich wohl zu mir hin
Ein heiß Verlangen?“
    Als Anna sich nach der Kammer zurückwandte, mit heißen trockenen Augen, war die Bank leer, Sibylla hatte das Gemach verlassen.
    *
    Ein helläugiger Sommermorgen war eben daran, mit zarten Dünsten und viel Sonne die taubefrischte Welt in Blau und Gold zu kleiden, als Anna andern Tags mit raschen Schritten über die Untertorbrücke und am Blutturm vorbei dem Stalden zu ging. Sie trug ein elfenbeinernes Rohr und Kästchen in der Hand, worin sie Pinsel und Farben verwahrte, und nahm mit tiefen Atemzügen und offenen Augen die Frische und Freudigkeit des jungen Tages in sich auf. Ach, sie wollte das Schwere von gestern abend abschütteln, wie das helle Land die nächtlichen Schatten weggewischt hatte. Wäre da nur nicht das Stechende in der Brust, jedesmal, wenn sie an Sibylla dachte! Aber sie wollte jetzt nicht daran denken, wollte nicht.
    Der Weg war steil und sonnig, und nur hier und da zeichnete sich der schmale Schatten einer Pappel oder der runde eines Obstbaumes auf den glänzenden Matten

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