Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
antwortete sie ernst, „ich finde bloß, daß die Stunde vorbei, wo anständige Jungfrauen sich auf diesem Platze ergehen können.“
„Ach, du bist so wohlanständig,“ seufzte diese, und während sie mit Anna hinter den voranschreitenden Jünglingen nachging, tönte es fast wie ein unterdrücktes Weinen, als sie leise fortfuhr: „Wann du wüßtest, wie ich euch beneidet habe! Drüben kam ich nicht weg von dem dummen Spiel und den dummen Menschen, und dann zu wissen, daß ihr nun irgendwo zusammen waret und mit euerm Italienisch eine Mauer um euch zogt, daß ihr ganz allein wart, ganz allein …“ Nun war es wirklich, als ob sie leise vor sich hin weinte. Anna schwieg. Das war ihr alles so peinlich, so unverständlich.
Am Ausgang der Plattform wurden sie durch ein Gedränge aufgehalten. Allerlei Volk hatte sich da um ein zankendes Pärchen versammelt. Es war viel Gekreisch und Gelächter, und nur mit Mühe konnten sich die jungen Leute durch die rasch anwachsende Menge hindurcharbeiten. Aber der Lärm drang ihnen bis zur Haustüre nach und die derben Spässe der Umstehenden.
„Oh, wie gemein das war, da gehe ich nie mehr hin, niemals mehr!“ sagte Anna entrüstet, als sie die Haustüre hinter sich schlossen.
Auf dem Flur begegnete ihnen Lukas Stark. Er kam vom Garten her und trug einen großen Strauß weißer Rapunzeln in der Hand, die im fahlen Licht mit ihren gezackten und fasrigen Köpfchen merkwürdig aussahen, wie kleine gespenstige Waldgeister. Und wie sie nach dem Wald rochen, so frisch, so herb! „Ich war im Dählhölzli,“ sagte Stark kurz; „Thüring hat mich noch über die Aare gesetzt. Ja,“ fügte er spöttisch hinzu, „die Plattformschwärmer können sich das wohl nicht denken, wie es aussieht im Wald, wann die Nacht kommt.“ Er schwenkte seinen Strauß wie ein Siegesbanner und ging dann rasch über den Hof nach seinem Zimmer.
Plattformschwärmer. Das Wort hatte Anna getroffen. Hatte er nicht recht, der Spötter? Oh, sie mißgönnte ihm den kühlen reinen Wald; ihr war, als ob er jetzt nicht nur glücklicher wäre als sie, sondern auch besser. Das war ein unerträgliches Gefühl.
Sibylla faßte sie bei der Hand: „Ich komme noch ein wenig zu dir in deine Kammer, Anna, ich muß noch mit dir sein heut abend.“
Als die Mädchen von der dunkeln Treppe her das Turmzimmer betraten, drängte sich ihnen eine große Helle entgegen. Als weiße Lache lag der Mondschein auf dem frischgescheuerten Boden, und die runden Scheibchen des offenen Fensters schimmerten wie große milchige Edelsteine. Mondschein lag über dem braunen Tisch und malte auf Annas weiße Bettdecke den Schatten einer Stabellenlehne 6 mit großem ausgeschnittenem Herz. Der Abendwind hatte von der nahen Plattform den starken Lindenduft herübergeweht, sodaß er nun mit fast bedrückender Süße den kleinen Raum erfüllte.
Sibylla warf sich auf die hölzerne Bank an der Wand: „Ach, Anna, Lindenblust 7 auch hier! Es sollte nicht so riechen dürfen, so heiß und sündhaft, daß man das Fieber davon bekommt. Fühlst du das nicht auch?“
Anna schüttelte den Kopf. Sie saß auf der Fensterbrüstung und blickte nach dem Dählhölzli hinüber, dessen freie Wipfel ein kleiner Wind leise hin-und herschaukelte. „Ich verstehe dich nicht, Sibylla. Lindengeruch, das scheint mir etwas so Kühles und Liebes, wie ein frischer Trank, den der Sommer in den Staub und die Glut des Tages schüttet. Da muß ich immer an Rüti denken, wann wir abends heimkamen vom Feld mit den großen, großen Wagen voll gelber Garben. Wir hatten Kornblumenkränze im Haar und die jungen Äpfel in der Tasche, die ganz frühen, weißen. Dann setzten wir uns vor dem Schlafengehen noch unter die große Linde und sangen den Abendpsalm mit der Mutter. Und von der Klosterkirche läutete das letzte Glöcklein, das mit dem ganz dünnen Ton, wie ein Armseelenstimmchen so zart. Ja, und dann rochen die Linden so stark, und die alte Sarah meinte: ‚Nehmt’s in acht, Kinder, das ist ein gesunder Geruch. Füllt die Nasen noch recht vor dem Schlafengehen, dann habt ihr einen schönen Traum.‘ Und wir zogen ihn tief ein und träumten nachher die allerschönsten Dinge. Ach nein, Sibylla, so ein frischer, lieber, fast möcht’ ich sagen ein frommer Duft ist das!“
„Und der Mondschein,“ forschte jene weiter, „findest du auch den fromm und erfrischend?“
„Gewiß,“ erwiderte Anna ruhig. „Wann wir den ganzen Tag auf dem Feld gewesen und das Haar heiß war von
Weitere Kostenlose Bücher