Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Schatten der kleinen Kreuze und der langsam Dahinwandelnden schwarze Löcher rissen. So ernst schritten Vater und Mutter mit den gefalteten Händen über den Gebetbüchern und hinter ihnen Maria und Rudolf, groß und schlank und schweigsam. Und nun waren wohl auch die beiden Jüngsten dabei, ach, sie konnte sich kein Bild von ihnen machen, denn nun waren sie ja ganz anders, als wie sie sie zuletzt gesehen. Daß man so aufwachsen mußte, ohne beisammen zu sein, und sich selbst entwachsen — es war doch recht traurig!
Und nun sah sie die Eltern wieder; sie standen gerade unter der Pforte zwischen dem Kirchhof und der Münstergasse, die sich unheimlich und starr ins Dunkle schob. Jetzt wandte sich der Vater und wies mit der bleichen Hand zurück: „Seht euch noch einmal um, Kinder; das ist das würdigste Bild, das ihr hinübernehmen möget ins neue Jahr: Kirche und Totenhof, Gott und das Ende — Bedenket es wohl.“ Und nun verloren sie sich in der schwarzen Gasse, wie ein Leichenzug so ernst und so stumm, aber mit einer großen Feierlichkeit in den Herzen.
„Nun seufzt Ihr gar, Waserin?“ Anna sah überrascht auf, und da gewahrte sie erst, daß Lukas am Ofen gelehnt nahe neben ihr stand und sie mit forschenden Augen betrachtete. Sie schnellte auf, um ihren Winkel zu verlassen; aber er hielt sie zurück: „Ich will Euch nicht stören; kann’s wohl begreifen, wann eins nicht immer lustig sein mag.“
Das war einfach, ohne allen Spott gesprochen. Anna sah ihm verwundert in die Augen. Die hatten immer noch denselben forschenden Blick, während er weiter sprach: „Ihr habt einen Abschied vor, das wird Euch zu Herzen gehn?“
„Ihr meint Herrn Morell? Ja, es tut mir leid,“ entgegnete Anna leise. „Etwas sehr Schönes hört nun auf und hört zu früh auf. Ich hätt’ so vieles noch lernen mögen, und nun ist es zu Ende.“
„Ja, so ist’s wohl,“ fuhr Lukas im gleichen leisen Tone fort; aber nun kam wieder das harte und bittere Lächeln um den kleinen Mund: „Das Schöne geht, und was uns widerstrebt — das bleibt!“
Anna wollte etwas entgegnen, als Herr Werner mit einem lauten „Ventre-saint-gris!“ dazwischenfuhr und die beiden Sonderbündler an den hellen Tisch zog, wo mit einem allgemeinen Pfänderspiel, an dem auch Frau Susanne teilnahm, die Lustigkeit in eine neue Phase gedieh. Doch auch jetzt fand sie bei Anna keinen Nachklang. Sie wunderte sich darüber, war doch selbst Lux, der an ihrer Seite saß, aufgetaut; aber ihr war immerfort, als ob sie irgendwo, fernab, das Zufallen einer Türe vernähme und sie darauf hören müßte.
Die Freude kam erst am andern Morgen zu ihr, als der Neujahrstag mit bitterkaltem Schneegeflimmer aufstand und es sie plötzlich etwas Schönes und Erwartungsvolles dünkte, einem neuen Jahr die Hand zu reichen. Es lag soviel Freudigkeit in der Luft, als ob die ganze Welt hoffnungsvoll aufatmete. Im Haus und auf der Straße das lustige Treiben der Gratulanten, die ihre seit vielen Tagen ausgedachten, wohlgerundeten Sprüchlein mit vieler Zierlichkeit darboten. Und im Münster farbige Sonnenlichter zwischen den hohen, hohen Säulen, die sich ganz zu oberst, wo die himmelstürmenden Bogen sie vereinen, in lauter Licht und Duft aufzulösen schienen, und die Rede des greisen Pfarrherrn mit den rosig glänzenden Wangen, so frisch und zuversichtlich, und die Orgel, mächtig und hell wie die kristallflimmernde Luft draußen und das Himmelblau zwischen weißverhängten Ästen. Ja selbst die Bären in ihrem Graben droben beim Käfigturm schienen an diesem Morgen fröhlicher als sonst; denn der Segen an gelben Rübchen und roten Äpfeln, die aus festtäglichen Händen in den Graben hinunterflogen, war so reich, daß sich die Beschenkten recht als die Stadtheiligen vorkamen und mit lustigen Sprüngen und würdigem Rumoren auch als solche sich gebärdeten.
Am Nachmittag kam Herr Morell ins Wernersche Haus, wo er die Frauen allein traf. In wenigen Tagen mußte er verreisen an den Hof eines deutschen Fürsten, der die Weisheit des großen Mannes besser zu schätzen wußte als dessen karge Vaterstadt. Während Frau Susanna und Sibylla für den Gast und die zurückerwarteten Herren einen Imbiß rüsteten, trat er mit Anna in den verschneiten Garten, und hier, angesichts des weiten glänzenden Landes, aus dessen weißer Unendlichkeit die Aare mit einem seltenen, schier schmerzhaft grellen Blau herausleuchtete, nahm er Abschied von ihr. Er überreichte ihr ein abgegriffenes weißes
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