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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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Buch mit verblaßter Goldprägung. „Dies, liebes Kind, mag Euch die Stunden dort drüben im Obstgarten zu einem κτῆμα ἐς ἀεί 11 gestalten.“
    Mit zitternden Händen griff Anna darnach; das war ja das Buch, über dem sie mit Herrn Morell unzählige Male gesessen in Stunden, die so reich waren, daß ihr in diesem Augenblick daneben das ganze andere Leben arm und unbedeutend vorkam. Und nun sollte es ihr gehören, für immer! Sie preßte den Schatz fest an ihre Brust, aber kein Wort des Dankes kam ihr aus der seligen Überraschung. Herr Morell lächelte mit einem feuchten Glanz in den Augen, als er des Mädchens Bewegung sah: „Freut’s Euch? Dann ist’s recht; zu danken braucht Ihr nicht, maßen ich Euch niemalen wiedergeben kann, was Ihr mir getan. Jetzo begreift Ihr das vielleicht noch nicht; aber wenn Ihr einmal alt werdet und das Leben mit Einsamkeiten heraufkommt, und fällt Euch dann so ein Stück Jugend mit heißem Herzchen und hellen Augen ins Altersstübchen, dann denkt an mich; Ihr werdet dannzumal vielleicht auch begreifen, daß mir der heutige Abschied nicht leicht fällt.“
    Dann zog er Anna an sich und küßte sie hastig auf die Stirne, und ehe sie noch ein Wort des Dankes oder ein Lebewohl gefunden, war er auch schon weg, und Frau Susanna hatte gut, dem Davoneilenden, den sie von der Küche aus über den Hof stapfen sah, nachlaufen; als sie die Haustür erreichte, vernahm sie nur mehr das letzte Verhallen der raschen langen Schritte.
    Am Abend, als sie sich in ihrer Kammer allein wußte und ungestört, öffnete Anna beim matten Schein des Öllämpchens ihr Buch. Es war zwar grimmig kalt im hochgelegenen Stübchen, aber sie wußte nichts davon. Sie las auf den vertrauten Seiten mit halblauter Stimme, und ihr Herz wurde warm.
    Wie es rauschte, Worte voll Schönheit und Kraft, leuchtend wie Edelsteine und mit seidenem Schimmer und tiefklar und hell, hell wie das Tagesgestirn selbst, wann die Luft schimmert und der ewige Glanz das Blau des Himmels trinkt. Und wie die Bilder sich reihten, machtvoll, überwältigend und lieblich, und so vertraut — Nausikaa, wie sie auszieht mit ihren Gespielinnen, so voll süßer Ahnung das Herz, und der tauklare Morgen drunten am Meer, sieht man es nicht glänzen, weithin, unendlich! Und Bälle fliegen durch die blaue Luft, hell und glänzend wie das Lachen der Mädchen … Ach, so spielen zu können mit leichten Kleidern und leichten Herzen unter Lorbeer und blühenden Myrten am weiten Meer, das immerzu rauscht, kühl und geheimnisvoll … Aber alles vergeht, der sorglose Morgen und Übermut und Lachen vor den schmerzvollen Augen des hohen Fremdlings, und alles schweigt, wann das große Heimwehlied anhebt, furchtbar und erschütternd … Oder war da ein leises schmerzliches Klingen wie vom Riß einer Saite? Nausikaa … Vielleicht — aber wer vernähme sie noch, die kleinen geheimen Schmerzen, vor den unendlichen des göttlichen Dulders.
    Anna las mit heißen Augen. Bisher waren es alles vertraute Worte, die ihr Herrn Morells Stimme und klärender Sinn in die Seele gebrannt hatte; dann aber kam neues Gebiet. Mutig wagte sie den Schritt, aber ach, war es nicht, als ob ihr Fuß plötzlich in wirres Gestrüpp geraten wäre? Wohl vernahm sie die Worte, herrlich wie zuvor, und ein Bild und Gedanke blitzten hie und da auf; aber zum Ganzen wollte es sich nimmer fügen. Sie suchte, sie rang mit Worten und Sätzen; aber nur tiefer verstrickte sie sich in der Wirrnis, sinnlos vom Wege verirrt. Ach, ihr Wissen reichte noch nicht so weit, und nun sie den weisen Führer verloren, schwand ihr der Pfad unter den Füßen. Eine große Verzagtheit kam über sie. Unvollständig, zu früh abgebrochen auch hier. Sie mußte an ihr Bildnis denken mit den toten Augen und dem unfertigen Mund. Und plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen, heiß, in einem unaufhaltsamen Strom. Sie wußte nicht, worüber sie weinte, ob über Herrn Morell, über Giulio oder über sich selbst; ihr war, als ob sie vor abgebrochenen Pfaden stünde, trostlos. Und war da nicht wieder das Zufallen der Tür, fern, fern, aber doch deutlich und grausam?
    Später freilich, als die Unglücksbotschaft aus Florenz eintraf, dachte sie, daß es eine Ahnung gewesen, und als die Nachricht die andern niederschmetterte, blieb sie aufrecht. Sie hatte den Schmerz zum voraus gekostet und fand nun keine Träne mehr, es war ihr wie Bestätigung eines lange Gewußten. Aber daß es so furchtbar sein mußte, so

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