Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
abscheulich! Erst der Freispruch, und dann mitten in das Glück der Freiheit hinein die grauenvolle, unaufgeklärte Tat. Giulio mit verzerrtem weißem Gesicht und blutgetränktem Haar irgendwo in der furchtbaren florentinischen Nacht drunten am Arno, der an Donna Ersilias Haus, allwo nun der falsche Freund Meister war, vorüberfloß … Das war das Bild, das den ganzen Frühling, der zart und sehnsüchtig aufging und sich sehnsüchtig und strahlend in den Sommer ergoß, verschattete und jeglichen Glanz auslöschte. Es war nicht Giulios Tod allein; die Tatsache, daß ein Leben dort abgebrochen war, wo es eben erst zur Edelblüte sich entfalten wollte, das war das Entsetzliche, daß man so mitten im Leben stehen konnte und das Herz voller Pläne, die alle gut und von Gott eingegeben schienen, und dann auf einmal fertig, abgeschnitten …
Anna mußte an alle die denken, die ein gleiches Geschick getroffen hatte. Alles, was sie von Martern und Hinrichtungen je vernommen, kam ihr nun in den Sinn, und zum ersten Mal gingen ihr die Augen darüber auf. Was hatte man nicht für furchtbare Dinge gehört von Exulanten, von jungen, zu Tode gequälten Menschen! All die Elenden, die auf Galeeren und in französischen Kerkern um des Glaubens willen zugrunde gingen, wiederholte sich an ihnen nicht hundertfach Giulios Schicksal, nur grauenvoller noch? Hatten sie nicht alle, wie er, mit frohen und sehnsüchtigen Augen in die Welt geschaut! Ach, Giulio lag nicht allein mit blutigem Haar; überall rauchte es von zerstörten Leben aus Kerkern und von Scheiterhaufen, und da sollte man weiterleben und arbeiten und schöne Künste treiben, als ob darin der Sinn des Lebens läge.
Es gab Zeiten, da Anna auch ihre Arbeit seelenlos und ohne Teilnahme betrieb, wo sie mitten von der Malerei weglief und droben in ihrer Kammer in dem schwarzen Buche suchte nach einem Sinn und Trost. In all der Trübsal und Not, wo war Gott? Und Gottes Güte, wo?
Erst nach und nach wurde sie wieder stiller in sich und klarer. Wie eine beschwichtigende Hand ging ihr das Evangelium der Liebe über die brennende Wunde, und eines Tages fiel ihr ein homerisches Wort in die Augen, das ihr seltsam ins Herz leuchtete: „ … und leiden die großen, vom Schicksal nicht gewollten Schmerzen durch eigene Schuld.“
Durch eigene Schuld! Nicht Schicksalsmacht, sondern Menschenschuld!
War es nicht Menschenhand, so das Furchtbare rings vollbrachte, die Giulio gemordet, die Kerker baute und Scheiterhaufen errichtete?
Gott hatte das nicht gewollt, und Gott konnte an den Opfern gut machen, was frevelnde Hand verübt, dort, wo Menschenmacht ein Ende hat. Und Gott wollte auch, daß die Menschen anders würden; denn gab er ihnen nicht Wegweiser allenthalben nach guten und glückbringenden Landen? Nicht allein das Evangelium, das mit klaren, unvergänglichen Worten es aussprach, daß die Liebe, die Liebe allein Menschenpflicht und Menschenglück bedeute und Ziel und Sinn alles Endlichen, wie der Unendlichkeit sei. Da war auch die Natur. Ach, wenn man sie recht betrachtete, eine Sommerwiese etwa, wann die Sonne darüber ging und in tausend betauten Gräschen Glanz und Flimmern entfachte und die ganze Welt duftete, so süß, daß man es fühlte bis in die wohlig durchschauerte Haut, und Grillen und Wachteln einander antworteten, so fein — wie konnte man das alles ansehen, die Helligkeit und das Leben, die ganze gebreitete Güte und noch einem einzigen schlimmen und vernichtenden Gedanken Raum geben ? Und hatte Gott nicht selbst den Heiden große Menschen erweckt, daß sie ihnen den wahren Weg zeigten? Und hatte er ihnen nicht die Kunst gegeben?
Ja, die Kunst.
Anna sah sie auf einmal mit andern Augen. Sie mußte an Worte von Herrn Morell denken, und sie glaubte deren Sinn erst jetzt zu erfassen. War nicht auch die Kunst ein Wegweiser zur Schönheit und Güte, dem Menschen von Gott verliehen? War nicht auch sie eine Waffe gegen alles, was sich häßlich und trüb vor die Wahrheit stellte, und nicht sie es, die eben jetzt am Ende eines furchtbaren, von Krieg und Haß zerrissenen Jahrhunderts aufging wie ein mildes Licht und Versöhnung und Güte strahlte?
Wie eine Befreiung und Erleuchtung war diese Erkenntnis über Anna gekommen. Ihr eigenes Leben sah sie jetzt in anderem Licht, und sie kam sich selbst bedeutsamer vor und voller Verantwortung, und wenn sie sich nun neuerdings mit heißem Eifer ihrer Arbeit zuwandte, so war es nicht bloß Freude an der Sache und das Bestreben,
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