Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Stoppelfeldern aufwärts dem Walde zu. Die Luft wogte von Sonne und feinem Summen, und aus den nackten strohgelben Feldern rings stiegen warme Wellen und ein zartes Zirpen auf. Wie ganz anders atmete es sich hier, in der großen freien Weite, als unten zwischen den festen Türmen und engen Mauern der Stadt, die, vom weißen Dunst ihres übeln Atems umschleiert, sich immer tiefer zu den Füßen der tapfer Aufwärtsschreitenden duckte.
Im Walde empfing sie noch morgendlich feuchte Kühle. Anna pflückte ein Taumantelblatt, das bis zum Rande mit silbernen Tropfen gefüllt am Wege stand, und hob es an den Mund. „Glück und Kraft zur Wanderschaft!“ Rasch tat es ihr Lukas nach, und während jedes sein Tröpflein nippte, sahen sie sich über den fein gezackten silbernen Saum des Blattes weg lachend in die Augen.
„So taten wir als Kinder jeweilen,“ sagte Anna im Weiterschreiten.
„Auch wir wollen heut Kinder sein, dann ist die Welt erst recht schön. Wollt Ihr?“
„Gut, Ihr nicht der spöttische und saure Lux.“
„Und Ihr nicht die stolze, abweisende Anna.“
„Früher wart Ihr doch recht unerträglich, Lux.“
„Und jetzt?“
„Etwas weniger!“
„Wann ich Euch früher so hätte lachen sehen wie jetzt, Anna; aber Ihr wart so klug, so unjung, so — ehrgeizig.“
„Und Ihr?“
„Ich nicht minder; aber eben deshalb!“
Sie kamen in eine Waldlichtung. Mit tiefem Summen lag das Waldweben über tausend blaßroten Blüten der Weidenröschen, und Samenflämmchen flogen silbern durch die Luft. Der Boden war warm, und es roch nach Harz und sonnengekochten Heidelbeeren. Anna blieb stehen. Starke Erinnerungen ergriffen sie bei diesem Duft und Anblick, und sie fing an, Lukas von ihrer Kinderheimat in Rüti zu erzählen, und dabei wurde sie froh und lebendig wie ein wirkliches Kind. Und Lukas ging darauf ein und erzählte seinerseits von seiner Heimat, dem Städtchen am Eingang des Oberlandes mit seinem alten Schloß und herrlichen See, und von den Bergen, die er so sehr liebte, und von Alpenrosenfeldern, die sich breiteten wie diese Waldlichtung hier, nur herrlicher, mit glühendem Rot und einem solchen kühlen, würzigen Duft. Anna lauschte voll Staunen. Niemals hatte sie den kargen Lux so reden gehört. Es tönte anders als bei Giulio, gewiß; nicht in vollen und blühenden Worten, die einen umfingen wie Musik und berauschten und entrückten. Die Sätze formten sich knapp in Lukas’ festem kleinem Mund und folgten sich fast zögernd; aber immer fand er den träfen Ausdruck, und aus seiner abgewogenen Rede flossen die Bilder nicht minder farbig und reich denn aus Giulios süßen, zündenden Tiraden. Anna betrachtete den Erzähler verstohlen von der Seite. Er ging mit leise vorgebeugtem Kopf, die grünen Augen niederwärts mit einem merkwürdigen heißen und doch klaren Blick, als ob er nach innen schaute, und seine Stimme hatte einen eigenen Ton, spröde, ein wenig klirrend. Anna mußte beim Klang dieser Stimme an Gletscherbäche denken, die spärlich fließen und Eis mit sich führen und feines schieferndes Geröll. Und dann erinnerte er sie wieder an jene knorrigen Bergtannen, die einsam stehen, irgendwo auf einem steilen Felsen, wo die Luft kalt ist und rau und der Boden karg, und die solch zähen Willen haben und wetterhart sind und stolz. Und hatte er nicht auch etwas von den Gemsen an sich, von denen er eben erzählte, mit den geschickten Füßen, den kleinen festen Köpfen und den großen Augen, die so klar waren und so scharf?
So scharf!
Auch heut noch, da sie doch als gute Freunde nebeneinander gingen, waren ihr diese Augen oft fast unheimlich, und wann ein schmaler Pfad sie zwang, hintereinander zu gehen, war ihr immer, als ob sie die Blicke des Nachfolgenden auf sich fühlte, wie etwas Heißes, schier Lähmendes. Deshalb trat sie, als nun der Weg wiederum in üppigem Unterholz sich verlor, rasch hinter ihn: „Diesmal geht Ihr voran.“
Er gehorchte mit einem eigentümlichen Lächeln. Die Zweige schlugen immer enger über ihnen zusammen, sodaß sie sich förmlich durcharbeiten mußten. Lukas faßte jeweils die vorwitzigsten und gab sie Anna in die Hand, damit sie nicht zurückschnellen konnten. Einmal berührten sich ihre Finger.
„Was habt Ihr kalte Hände, Anna!“
„Und die Euern sind warm wie Öfelein,“ gab sie lachend zurück.
„Wohlan, Ofen sind da, um zu wärmen!“ Schnell haschte er ihre Rechte und zog dann auch die Linke nach. Anna wehrte sich: „Ich habe nicht kalt!“
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