Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Lehrer und Eltern zu erfreuen, wohl aber eine tiefe innere Glut, die beglückende Überzeugung, mitzuhelfen an einem großen Werke, dessen Ziel weit über die engen sichtbaren Grenzen hinaus im Unermeßlichen lag, und damit verband sich die glückliche Zuversicht aller tüchtigen Jugend, einer besonderen, wichtigen Zeit anzugehören und mit ihr neuen, unerhörten Zielen entgegenzugehen.
Ein Ereignis fiel ihr ein aus ihrer frühen Kindheit. Daheim in der großen Stube, alle versammelt, sie Kinder furchtsam zusammengeduckt; denn es war schier dunkel im Zimmer, weil der Vater die Laden zugezogen hatte, damit man nicht auf die Gasse sehe, von wannen ein wildes Laufen und aufgeregtes Geschrei heraufdrang, maßen ein schlimmes Weib vom Leben zum Tod gerichtet werden sollte, und nun lief alles, um die Hex zu sehen auf ihrem Todesgang. Und als der Lärm immer größer wurde und einzelne Worte hereinflogen, wüste Verwünschungen und böses Gelächter: „Kniet nieder,“ gebot der Vater, „und betet für die arme Seele!“ Aber wie sie ihm mit bebenden Lippen die ernsten Worte nachsprachen, flog plötzlich die Türe auf, und der Onkel Fähndrich stand vor der Schwärze des Ganges: „Für die heilige Obrigkeit solltet ihr beten und die hohe Geistlichkeit,“ rief er und riß grimmig an seinem langen Schnauzbart, „daß ihnen das nicht zu schlimm angerechnet wird! Habt ihr das arme Weiblein gesehn? Lützel und armselig zum Umblasen; mit einer Hand wollt’ ich’s lüpfen, und mit Augen wie ein Spyri, wann’s zu Boden fällt und die Flügel nimmer gebrauchen kann, und nun die ganze Bande hinterher — saker Hagel, diese Sauerei!“ Und er spuckte weit aus auf den blanken Boden, daß die Mutter entsetzt zurückfuhr und ihn der Vater mit ernsten Worten zurechtwies von wegen der unbotmäßigen Worte in Anwesenheit der Kinder. Aber der Fähndrich lachte: „Grad die sollen’s hören, Bruder, die gehören einer andern Zeit an und sollen eine andere machen helfen.“ Und dann hatte er sie auf den Arm genommen: „Anneli, Meiti, die klaren Äuglein da sollen bessere Zeiten sehen, will’s Gott!“ Und hatte sie geküßt, und obwohl sein grober Schnurrbart sie in die Backen stach und ein scharfer Tabakgeruch ihr den Atem benahm, war ihr doch ganz feierlich zumute dabei.
Daran mußte sie nun denken; ja, ihre Augen wollten andere Zeiten sehen.
Anna stürzte sich mit einem fiebrigen Eifer in ihre Arbeit, und fast jeder Tag brachte neue Fortschritte, neue Erkenntnis und neues Können, sodaß Herr Werner sie verwundert betrachtete: „Was ist für ein Feuer über Euch gekommen, Waserin! Wann Ihr so zufährt, hat Joseph Werner seiner Jüngerin bald nicht mehr viel zu sagen.“ Und Anna fühlte mit heimlichem Entzücken, daß sie mehr und mehr selbständig wurde und weniger des Meisters Hilfe denn seinen Rat und seine Auskunft bedurfte. Und das war gut. Herr Werner hatte mit sich viel zu tun und konnte sich nicht mehr wie früher seinen Lehrjüngern widmen. Giulios Tod war ihn hart angekommen, besonders, da er sein eigenes Leid in Sibyllas Schmerz mit hundertfacher Spiegelung wiederfand. Mit der ganzen Leidenschaft ihrer aufwallenden Natur hatte das Mädchen, das sich so plötzlich aus trügerischen Hoffnungen geworfen sah, sich der verzweifelten Trauer hingegeben; ihre Gesundheit hatte darunter gelitten, sodaß man sie vom Schauplatz ihrer Hoffnung und Schmerzen etwas entfernen zu müssen vermeinte und sie für längere Zeit zu Verwandten nach Lausanne schickte, allwo sie sich nach und nach von ihrer Siechheit zu erholen schien. Bald nach Sibylla war auch der junge Waadtländer verreist, der seine Lust für die edle Kunst alsobald verlor, da es im Wernerschen Hause traurig und einsam wurde, und auch Adam Mörikofer hatte eines Tages in einer verwirrten, überstürzten und völlig unerklärten Abreise Bern verlassen, sodaß nun neben Christoph und ein paar unregelmäßigen Tagesschülern nur mehr Anna und Lukas da waren. Dieser weniger mehr als Schüler denn als Mitarbeiter des Meisters, dem er sich hauptsächlich durch Radierungen wertvoll machte, die Herrn Werners Gemälde weithin verbreiten sollten. Und Herr Werner trachtete nicht darnach, dem zusammengeschmolzenen Bestand seiner Kunstakademie neue Kräfte zuzuführen, da sich Fragen ganz anderer Art in den Vordergrund drängten. Auf Herrn Andreas Morells Verwenden hin, der die Mißachtung, die Werners Kunst in seiner Vaterstadt erfuhr, nicht ohne Schmerz mit ansehen konnte, war
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