Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
gesehen; so etwas sollte es werden. Sie rief dem Mädchen zu, daß es sich eine Zeit lang ruhig verhielte, und dann zog sie ein neues Blatt hervor und ließ mit flinken Fingern das Blei darüber gleiten.
Noch nie hatte sie so gezeichnet! Jeder Strich saß, und mit fast wunderbarer Schnelligkeit und Kraft wuchs die Skizze unter ihren Händen hervor, die das entzückende Bild dort festhielt.
„Du zauberst, Anna!“ Lukas beugte sich über sie, während sie mit dem Farbstift die nötigen Töne aufsetzte.
„Das macht wohl das Glück,“ antwortete sie leise und ohne aufzublicken. „Alles geht nun so leicht, ich meine, alles muß mir gelingen, das Glück macht hellsehend.“
„Mich nicht,“ antwortete Lukas dumpf. „Ich sehe nur eines mehr, und davor vergeht mir die ganze Welt. Schließlich werde ich noch ein rechter Stümper.“ Er lachte kurz und zerriß jäh das Skizzenblatt, auf das er ein paar mühsame Formen hingezeichnet hatte, in hundert Fetzen.
Früher als voriges Mal verließen sie den Ort. Die beiden Mädchen, denen das lange Verweilen an derselben Stelle langweilig wurde, drängten zum Aufbruch. Der Abstieg gestaltete sich wiederum zu einem fröhlichen Spiel, in das nun auch Anna und Lux hineingezogen wurden. Auf einer kleinen eichenumbuschten Kanzel über dem Wald rastete die Gesellschaft noch einmal. Der Blick über das Aaretal tat sich vor ihnen auf und zeigte das weite Land von den Alpen bis zum fernhin verklingenden Jura silbernübergossen vom matten Glanz des sinkenden Septembertages. Und ernst, mit tiefen Schatten zwischen blitzenden Zinnen lag die gedrängte, fest umschlossene Stadt in dem stillen Glänzen da, mächtig und kraftvoll wie die Alpen drüben in ihrer gesammelten Größe.
Anna lehnte sich an den Stamm einer Eiche, die etwas erhöht über dem Känzelein stand, und blickte in das herrliche Bild. So vertraut alles und doch neu, als ob sie es heute mit andern Augen sähe. Oder war es, weil sie die Kraft, die diese Landschaft ausströmte, wie keine andere, in den eigenen jungen Gliedern fühlte, daß ihr heute alles so anders vorkam? Sie suchte die geliebten Orte, das Gärtchen an der Junkerngasse, wo Giulio seine Lieder gesungen, und den Obstgarten, wo sie mit Herrn Morell die reichen Stunden verlebt hatte. Soviel Schönes schon vorüber, und doch konnte sie ohne Schmerz daran denken, heute schien ihr ja alles nur wie Vorspiel. Sie sah nach der Jungfrau hinüber, die mit bläulichen Schatten fast schemenhaft dastand, aber hoch, übermächtig hoch. Herrn Werners Wort fiel ihr ein. Ja, wie war es nun, war sie vielleicht kleiner geworden, weil dieses Große über sie gekommen? Sie lächelte. Nein, nein, stärker bloß und freier; es war wie bei einer Pflanze, die man an die Sonne gestellt: auf einmal werden die Blätter dunkelgrün und glänzend und groß, und die Knospen brechen auf. Ja, so war ihr, als ob sie höher wüchse über alles hinaus, und sie grüßte still zu der schimmernden weißen Riesin hinüber, als ob sie sich schwesterlich verstünden.
Die andern jagten in einem improvisierten Fangspiel durch den steilen Hohlweg hinunter, der rasch im Walde versank. Sie sah ihnen nach, als ob sie das nichts anginge, immer noch betrachtete sie das herrliche Bild.
Da tauchte in der Öffnung des Hohlweges Lukas wieder auf: „Den Weg hinunter tollen sie, schon weit. Wir sind allein, Anna.“ Er stand dicht vor ihr, sein Gesicht war erregt, die Augen fieberten. „Die andern fangen sich und halten sich mit Armen; Anna, sei lieb, nur ein einziges Mal küsse mich!“ Er umfaßte mit heißen Händen ihre kühlen Arme und suchte sie an sich zu ziehen; aber Anna befreite sich mit einer raschen Bewegung und eilte nach der andern Seite der Kanzel, wo sie mit abwehrenden Händen stehen blieb:
„Wann du das noch einmal tust, Lukas, dann ist alles fertig!“ Sie zitterte, und ihre Augen standen dunkel in dem weißen Gesicht. Lukas, der ihr zuerst nachgeeilt war, blieb stehen; dann stampfte er zornig den Boden: „Oh, du bist kalt, kalt wie keine andere, du hast kein Herz, du weißt nicht, was Liebe ist!“
„Liebe?“ Anna sah ihn innig an. „Liebe, oh, etwas so Schönes, etwas so Großes, viel zu herrlich, als daß das andere daran rührt, das Gemeine, das alles herunterzieht!“
„Gemein?“ Lukas sah düster vor sich hin mit dem alten bösen Spottlächeln. „Und doch hat sich eine gewisse Jungfer an einem Neujahrstag von einem gewissen Herrn Morell küssen lassen.“
„Schäm dich,
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