Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Rasch packte sie ihre Geräte aus, Papier und Reißblei und die kleinen Farben, und machte sich auf einem bequemen Steinblock zurecht. Und dann arbeitete sie, und alles um sie versank, was nicht zu dieser Arbeit gehörte. Auch Lux war nicht mehr da für sie. Was kümmerte es sie, daß er seine eigene Zeichnung bald aufgab, daß er unruhig hin-und wiederging, sich zuletzt neben sie auf den Boden warf und sie unverwandt betrachtete? Sie sah nichts mehr als diese herben, feucht übertauten Felsen, diese Blätter und Blumen in ihrer verwirrenden Fülle und Formenpracht und ihr armes weißes Papier, auf dem sie all das festhalten wollte, irgend in einer Weise, daß der Abglanz von jener Schönheit dort bleiben konnte.
Nur ungern ließ sie sich stören, als Lukas das kleine Mittagsbrot hervorbrachte, und erst als die Schatten länger wurden und mählich ein violetter Schimmer in die Bläue des Himmels drang, legte sie mit einem Seufzer die Sachen zusammen. Sie war noch lange nicht fertig; aber Lux lachte sie aus: als ob das möglich wäre in so kurzer Zeit! Er bewunderte ihre Arbeit, gegen die er als ganzen Erfolg der vielen Stunden nur ein kleines Bildchen zu halten hatte, einen Profilriß, in dem Anna unschwer sich selbst erkannte.
„Wir müssen eben wiederkommen, morgen oder übermorgen!“ Und er schaute Anna mit fröhlichen Augen an. In einem nahen Bauernhaus, das am Bächlein zwischen mächtigem Huflattich am Waldrand unfern der Höhle lag, gaben sie ihre Geräte ab, um sie fürs nächste Mal nicht hin-und wiederschleppen zu müssen; dann zogen sie auf einem kleinen Umweg, der sie um Tannenwald und Dickicht herumführte, der Waldlichtung zu, von wo der Pfad steil und gerade durch das erste Waldstück stadtwärts lief.
Am Waldausgang blieben sie einen Augenblick stehen und blickten nach der Stadt hinunter, deren spitze Zinnen rot aufleuchteten. Lukas wies auf den Taumantel zu ihren Füßen, der nun leer mit trockenen müden Blättern dastand. „Und nun, hat er uns Glück gebracht oder nicht?“
Anna sah ihn froh an: „Es war ein schöner Tag, Lux, ich dank’ Euch dafür!“ Dann reichten sie sich die Hände, die warm und kräftig ineinander griffen, und liefen wie zwei frohe Kinder Hand in Hand über die abendlichen Felder hinunter der Stadt zu: „Morgen gehen wir wieder!“ Und der rotdampfende Abendhimmel warf einen leuchtenden Schein in ihre jungen Gesichter.
Aber über Nacht verdichtete sich der rote Abenddunst zu einer schwerhängenden Wolkendecke, die auf lange hinaus so reichlichen Regen spendete, daß an ein Aufsuchen der Grotte nicht mehr zu denken war.
Und dann kam Sibylla zurück. Sie brachte ein schönes welsches Bäschen mit sich, das sie wie ein höheres Wesen anbetete; alles andere und auch die Schmerzen der Vergangenheit schienen vor dieser Schwärmerei in den Hintergrund zu treten. Anna kam sich recht abgesetzt vor in ihrer Freundschaft, was sie indes nicht sonderlich betrübte. Im Gegenteil, das frohe und laute Wesen der hübschen Französin, die unter einem herrlichen, schier frechen Goldhaar ein feines mutwilliges Gesichtlein und allerlei fröhliche und ausgelassene Einfälle trug, zog so ganz alle Aufmerksamkeit und alles Leben an sich, daß Anna umso ruhiger sich und ihren innersten Gefühlen leben konnte, und dazu hatte sie gerade in dieser Zeit ein niegekanntes Verlangen.
*
Bereits waren die ersten mattglänzenden Septembertage erschienen, und ein leiser wehmütiger Hauch lag in der Luft, wie von Welken und Abschiednehmen, als Anna und Lukas endlich ihr unterbrochenes Werk bei der grünen Grotte wieder aufnehmen konnten. Diesmal waren sie nicht allein. Christoph und die beiden Mädchen waren auch von der Partie, und im letzten Augenblick hatte sich noch der junge Morell ihnen angeschlossen, der, seiner Studien wegen in Bern verblieben, seit Sibyllas Rückkehr ein steter Gast im Wernerschen Hause war. So kam es, daß der Wald diesmal von fröhlichem Geplauder und manchem übermütigen Lachen widerhallte. Nach und nach blieben Anna und Lukas zurück, und als sie durchs Dickicht gedrungen waren, fanden sie sich durch den ganzen tiefen Tann von den andern getrennt, die in neckischem Spiel über die dunkeln Wege davongejagt waren und nun allbereits den hellen Buchenwald erreicht hatten. Einen Augenblick blieben die beiden stehen; dann griff Lukas verstohlen nach Annas Hand:
„Du Liebes, du, wie schade, daß wir nicht allein sein können!“
Aber Anna lächelte: „Es ist auch so
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