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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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Schäferstück; hatte sie es seither übertroffen oder auch nur erreicht? Stand sie nicht an jener gefährlichen Grenze, vor der Giulio sie gewarnt, und war daran, in handwerklicher Geschicklichkeit ihre großen Hoffnungen zu begraben?
    Giulio und Morell und Herr Werner, alle hatten sie in die Ferne gewiesen, und nun saß sie da zwischen gehäufter Arbeit, aus der ihr Sehnen keinen Ausweg fand.
    Und da war Rudolf und schürte ihre Fernsucht mit seinem eigenen heißen Verlangen. Die Schule hatte er hinter sich, aber war annoch frei und ohne Stelle, und nun drängte es ihn fort: lernen, lernen, nicht nur zu Arbeit und Verdienst, lernen, um das Höchste zu erreichen.
    Und da war Johannes Cramer, dessen das Glück sich zum andern Mal annahm, indem es dem noch so Jungcn eine ehrende Stelle brachte, als Professor an einer kleinen Akademie draußen in deutschen Landen. An einem Maimorgen zog er aus, mit solch frohem Leuchten in den blauen Augen und einem seltenen roten Schimmerchen auf den schmalen Wangen, als er Lisabeth behütete: „Nun geht’s nimmer lang, dann hol’ ich dich!“
    Und Elisabeth hatte unter Tränen gelacht: „O Lieber, Lieber, nun kommen deine Briefe, die schönen, da will ich nimmer klagen, daß du fort bist, will mich freuen, daß es dir gut geht, und stolz sein auf meinen hochgelehrten Liebsten.“
    Ein so hoffnungsreich seliges Abschiednehmen. Aber Rudolf, als er den andern wegreiten sah, hatte sich die magere Hand in die Augen gedrückt und geweint wie ein Bub : „Ja, der, der kann gehen, alle Welt steht ihm offen und alle Zukunft. Wir aber können dableiben in den Mauern drin und lernen und uns ducken, ducken und kein Freiheit nicht, kein Luft nicht, kein Ausweg nicht!“
    Anna hatte ihn zu trösten versucht und zu mahnen, und hatte doch selbst das Herz voll. Die Welt, die Welt, die das große Geheimnisvolle in Händen halten mußte, darnach sie sich sehnten, beide …
    Und Elisabeth erzählte voller Stolz aus den Briefen ihres Liebsten, wie er einen glänzenden Weg genommen, in Basel auf der hohen Universität Kosten — das war am sechzehnten des Mai — zum Doktor kreieret worden, wie er viel Freundschaft und Glück genossen auf der weiten sonnigen Reis’ den Rhein hinab und wie er in Herborn auf der Akademie daselbst mit großen Ehren empfangen worden, so eher einem alten würdigen Professor denn einem jungen neugebackenen Doktor geziemt, und wie er an seinem neuen Platz allbereits zu so hoher Anerkennung gelangt, daß ihm über die Stelle eines Professors linguae hebraeicae auch noch die Würde eines Prorektors anvertraut worden. Ah, wie da ein seltenes Lächeln des Amtmanns Züge verschönte, da er solches vernahm, und die Frau Esther rosenrot wurde vor lauter Stolz. War es nicht, als ob dieser Johannes alles Leid auslöschen könnte, was sein armer Vetter über sie gebracht? Aber Rudolf biß die Zähne zusammen über all dem Lob. Ja, klug ist er, der Johannes, und hat viel gearbeitet, aber auch zahm und gefällig den Großen, und ein Glück hat er, ein Glück!
    Aber eines Tages kam von Johannes ein Brief mit einem eiligen Boten und trug des jungen Rodolphus Waserus V.D.M. 6 Adresse, und als dieser ihn gelesen, da rannte er die Treppen hinauf in paar Sätzen in Annas Malstube und lachte: „Victoria, Victoria!“ und umhalste seine Schwester: „Da lies, da lies!“ Und drückte sein Gesicht an Annas Wange, daß er mit ihr lesen konnte, und hielt ihre Hand in der seinen, um sie zu pressen an denen Stellen, worüber das Herz einen Sprung machte, und gingen die vier Augen durch die Zeilen, die also lauteten:
    „… Und ob Du, lieber Schwager in spe, aus was Ursach ich Dir eine so lange und eilige epistulam schreibe, Dich füglich wundern und nach dem Ende mit viel Neubegier trachten magst, muß ich Dich dennoch um etwas Geduld bitten, dieweil ich den Vorgang der Reihe nach und in extenso vorzutragen am besten erachte, gemäß der alten Regel, daß der grad Weg der kürzist.
    So sitz’ ich nun hier in der loblichen Stadt Herborn, die, wenn auch an Größe kaum ein Dritteil unseres stolzen Zürich, doch durch eine wohlausstaffierte, zu jeglichen Lehrfächern geeignete Academie einer gewissen Bedeutung nicht ermanglet. Die Stadt aber lieget hart an des hohen Herrn Seiner Durchlaucht des Grafen Wilhelm Moritz zu Solms-Braunfels Gebiet, dessen Residenz Braunfels, eine feste Burg und Stadt über dem Lahntal, nahebei in einer nicht weiter denn Baden von Zürich gelegen. Da ich nun selbigem

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