Die Geschichte der Deutschen
seine Interessen machtpolitisch und das heißt häufig mit militärischen Mitteln durchsetzen, braucht er die Heere der Kaiser und Könige.
Nie mehr werden die Kirche und der Klerus später eine solche gesellschaftliche Schlüsselrolle einnehmen wie in den Jahrhunderten des Hochmittelalters. Im Zeitalter des Humanismus und der ihm folgenden Aufklärung wird der Mensch wissender und mündiger. Den von der Kirche dogmatisch verkündeten Wahrheiten über Himmel und Hölle, Gott und Teufel, über die Schöpfung und die Bestimmung des Lebens stehen nun immer deutlicher die rationalen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die Vernunft und Toleranz einfordernden Schriften der neuzeitlichen Philosophen gegenüber. Die Verweltlichung der europäischen Gesellschaften wird im Laufe der nächsten Jahrhunderte die Kirche entmachten. Der Mensch entdeckt das Ich, er befreit sich vom Aberglauben, um in neuen Unfreiheiten zu erwachen. Gott ist tot, verkündet triumphierend der Philosoph Friedrich Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts. Aber ist es nicht vielmehr so, dass sich nur eine tiefgreifende Verschiebung ergeben hat: Gott ist keine angeordnete gesellschaftliche, sondern eine individuelle Glaubensfrage geworden. Er ist nicht gestorben, sondern der Mensch hat die Freiheit, sich seinen eigenen Weg zu ihm zu suchen. Anfang des 12. Jahrhunderts jedoch ist von dieser Emanzipation des Menschen noch nichts zu spüren.
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Tapfere Ritter und mächtige Staufer
Im Jahr 1184 erlebt die Stadt Mainz einen Hoftag, wie ihn glanzvoller das Mittelalter wohl bis dahin nicht gesehen hat. Mehr als 20 000 Ritter aus Deutschland, Frankreich und England sind an den Rhein gekommen, um sich über Wochen hinweg in Turnieren und Kampfspielen miteinander zu messen. Anlass ist die Schwertleite, die Feier zur Mündigkeit und Waffenfähigkeit der beiden ältesten Söhne von Kaiser Friedrich I. In schimmernden Eisenrüstungen und mit buschigen Helmen, das lange Schwert an der Seite und die Lanze mit dem Wappenwimpel in der eisenbehandschuhten Faust, durchreiten die Ritter auf mit Decken und Panzern geschützten Pferden die Schranken des Turnierplatzes. Kaiser und Hofstaat, Fürsten und Erzbischöfe, ausländische Herrscher und Diplomaten, Stadträte und die edelsten Damen des Reiches sitzen angeregt plaudernd auf den Tribünen. Jenseits der Plätze der Großen des Reiches sammelt |53| sich ein tausendfaches Publikum: Mainzer Bürger und Bauern aus dem Umland, Händler und Handwerker, Marktweiber und krakeelende Kinder. Im Gedränge der Menge lauern Taschendiebe auf Beute. Gaukler amüsieren mit ihren Späßen und akrobatischen Kunststücken. Huren wandern durch das Menschengetümmel und suchen nach freigiebigen Kavalieren. Es riecht nach Bratäpfeln, Menschenschweiß und Pferdekot. Ritter und Pferd werden beurteilt, Wetten auf den Sieger abgeschlossen und wenn einer der Turnierhelden in der Kampfarena erscheint, brandet Beifall auf. Außerhalb des Turnierplatzes reihen sich in unendlicher Vielfalt die Zelte und Ställe, zwischen denen es von Knechten und Dienern wimmelt. Festtagstimmung herrscht am Rhein.
Wenn dann endlich die Ritter zum Kampf aufsitzen, den Helm schließen und mit angelegter Lanze aufeinander zu galoppieren, geht ein Raunen durch die Reihen. Lanzen splittern und der helle Klang der aufeinander treffenden Schwerter mischt sich mit dem Schnauben der Pferde. Sinkt ein Kämpfer getroffen in den Staub der Turnierbahn, gellt ein Aufschrei über den breiten Strom. Mancher steht nie mehr auf, andere schleppen sich blutend und mit gebrochenen Knochen vom Platz. Wer aber siegt im gefährlichen Lanzenritt und Schwerterkampf, dem winkt weit über die Stadtgrenzen von Mainz hinaushallender Ruhm und möglicherweise sogar die Hand einer adligen Schönen. Und die Menge jubelt, wenn gar der Kaiser höchstselbst das Pferd besteigt und sich mit den Rittern seines Reiches misst.
Aus diesem Stoff sind die unzähligen Rittergeschichten gestrickt, die unser Bild vom Mittelalter geprägt haben. Allerdings kommen sie erst im Spanien des 15. Jahrhunderts so richtig in Mode und bald schreibt Miguel de Cervantes mit seinem Don Quijote eine liebevolle und großartige Parodie, die die übertriebene Ritterbegeisterung seiner Landsleute aufs Korn nimmt. Im 19. Jahrhundert idealisieren die Romantiker das Rittertum. Seine scheinbare Herrlichkeit und Größe soll sie über die als trist und unheroisch empfundene politische Wirklichkeit
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