Die Geschichte der Deutschen
hinwegtrösten. Napoleon herrscht über Europa und die wachsende Sehnsucht der Deutschen nach nationaler Einheit bleibt unerfüllt. So vergessen sie das nüchterne Heute und begeistern sich nicht nur am Edelmut der Ritter und ihrer keuschen Minne, sondern auch an den Zauberern, Hexen, Feen, Elfen, Drachen und Dämonen, die ihnen während ihrer Streifzüge begegnen. In der Flut von Rittergeschichten geht es häufig recht seicht und sentimental zu. Den berühmtesten und vielleicht schönsten Ritterroman der Neuzeit aber schreibt der Schotte Walter Scott. Er erzählt von den Abenteuern des englischen Ritters Ivanhoe und der schönen Jüdin Rebecca, die ihn liebt.
|54| Um das Rittertum ranken sich unzählige Legenden und Sagen. Im Hochmittelalter, vor allem in den Jahren, in denen die Staufer regieren, erlebt es in Europa seine glanzvollsten Zeiten. Seine Wiege liegt in Frankreich und England. Später übernehmen auch die deutschen Adligen seine Ideale. Über die Grenzen der Königreiche hinweg verbindet die Angehörigen des Ritterstandes eine gemeinsame Lebensform. Noch heute sprechen wir von einem ritterlichen Verhalten, wenn es gilt die anständige, ehrenvolle Handlungsweise eines unserer Mitmenschen herauszuheben. Bescheidenheit und Milde sind wichtige Tugenden, die der Ritter zu verwirklichen hat. Der Schutz der Kirche und der Schwachen zählen zu seinen vornehmsten Pflichten. Er folgt dem Heeresruf seines Lehnsherren und der Aufforderung des Papstes ins Heilige Land zu ziehen und Jerusalem zu befreien. So will es das ritterliche Ideal.
Von besonderer Bedeutung ist die höfische Minne, in der ein Ritter der Frau seines Herzens dient, für sie oder in ihrem Namen in den Kampf zieht. Da die Selbstzüchtigung ebenfalls zu den von ihm verlangten Tugenden zählt, soll die leidenschaftliche Anbetung des hochwohlgeborenen Herren die Grenzen einer platonischen Liebe nicht überschreiten. Wenn Frieden im Land herrscht, keine Turniere locken oder der Nachbar zu keiner Fehde herausfordert, leben die Ritter auf ihren Burgen, gehen auf die Jagd, schlagen sich die Zeit mit ihren Waffen- und Kampfübungen tot. In ganz Europa, etwa am Rhein, an der Donau, im schottischen Hochland und in der Bretagne stehen noch heute die mächtigen Ruinen ihrer Burgen.
Wolfram von Eschenbach (etwa 1170/80–1220)
Wolfram von Eschenbach lebt in der Blütezeit des Rittertums. Neben Hartmann von Aue, Walther von der Vogelweide und Gottfried von Strassburg ist er heute Bekannteste der mittelhochdeutschen Dichter. Über sein Leben wissen wir fast gar nichts. Nur seine Dichtungen geben über ihn Auskunft. Geboren ist er in Eschenbach (Mittelfranken) und er entstammt wahrscheinlich einer Familie, die zum Dienstadel gehört. Sein erstes Werk wird zugleich sein Berühmtestes. Es ist der höfische Roman Parzival. Er beginnt ihn im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts.
Wolfram von Eschenbach bezeichnet sich selbst als dichtenden ritterlichen Laien, der kein Latein kann. Seine Texte stammen oder sind stark beeinflusst von der altfranzösischen Literatur, die er offenbar sehr genau kennt. Er soll über ein erstaunliches naturgeschichtliches, medizinisches und astronomisches Wissen |55| verfügt haben. Dies weist darauf hin, dass er eine wissenschaftliche Ausbildung genossen hat. Wie fast alle mittelhochdeutschen Dichter schreibt Wolfram Auftragswerke. Da er materiell in bescheidenen Verhältnissen lebt, ist er auf die Förderung der Höfe angewiesen. Seine Dichtungen sind daher in erster Linie für die höfische Gesellschaft geschrieben. An den langen Winterabenden werden sie im Kreise des Burgherrn, seiner Familie und der Gäste vorgelesen und debattiert. Der Parzival beispielsweise soll von einigen fränkischen und nordbayerischen Adelfamilien »bestellt« worden sein. Wolframs unvollendet gebliebene Dichtung Willehalm beginnt er auf Wunsch des Landgrafen von Thüringen.
Vielleicht ist sein Ruhm darauf begründet, dass er eine der Grundfragen des mittelalterlichen Menschen so spannend, einfühlsam und trotz aller Frömmigkeit doch auch sehr eigenwillig beantwortet: Wie können wir unser weltliches Leben in Einklang mit dem Heil der Seele bringen.
Wolframs Parzival gilt bis heute als die erfolgreichste deutsche Dichtung des Mittelalters. Seine Erzählung geht über die allgemeine Darstellung der Ritterlichkeit eines Ritters in den zahlreichen und beliebten Romanen hinaus, die sich um die Tafelrunde von König Artus ranken. Für Wolfram ist die
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