Die Geschichte der Deutschen
angeordnet.« Protestantische Kirchenvertreter werden bis in die Jahre des Nationalsozialismus hinein immer wieder auf solche Bibelzitate und auf die Äußerungen des Reformators hinweisen, wenn es gilt, das Handeln des Staates zu verteidigen oder sich gegenüber den Verbrechen der Obrigkeit in Schweigen zu hüllen.
Die Reformation, die in den kommenden 100 Jahren die politischen Ereignisse in Deutschland bestimmt, ist ohne Luther kaum denkbar. Aber schon sehr rasch beginnt die protestantische Bewegung sich zu zersplittern. Die Frage, wie das Abendmahl zu feiern sei und welche Bedeutung die Darreichung von Wein und Brot besitze, erregt deren Wortführer nicht weniger als die Debatte darüber, welche politischen Aufgaben die Gemeinde oder der einzelne Gläubige zu übernehmen habe. So treten neben Luther auch andere charismatische Führer des Protestantismus in den Vordergrund. Von Genf aus breitet sich die Lehre von Johann Calvin aus. In Zürich spielt für kurze Zeit Ulrich Zwingli eine wichtige Rolle. Thomas Müntzer wird zu einem der bekanntesten Wiedertäufer, der radikalsten Bewegung der Reformation.
Calvin ist neben Luther zweifellos der bedeutendste Protestant. Als er 1534 als Anhänger der Evangelischen Frankreich verlassen muss, geht er zunächst nach Basel, dann nach Genf. Dort übernimmt er ein Lehramt, wird bald jedoch wegen der von ihm gepredigten strengen Kirchenzucht ausgewiesen. Drei Jahre später kehrt er zurück und führt den Kampf gegen die Aristokratie in der Stadt an. Genf erhält eine neue Kirchenordnung. Für Johann Calvin ist die Kirche ein Ort für das »Volk der Auserwählten« und sie unterliegt daher strengen sittlichen Anforderungen. Zucht und Ordnung, Lehre und soziale Fürsorge sind wichtige Stichworte des Calvinismus. Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden, moralische Bigotterie und Selbstgerechtigkeit werfen die Gegner den Calvinisten vor. Calvins Lehre beeinflusst die englischen Puritaner, die sie hinüber nach Amerika bringen, wo die Evangelisten noch heute eine mächtige und konservative politische Rolle spielen. Auch die französischen Hugenotten berufen sich auf Calvin. 1572 fallen viele ihrer Anhänger in der berühmt-berüchtigten Bartholomäusnacht |85| einem Massaker zum Opfer, das die katholische Partei auslöst. Unter Ludwig XIV. werden sie 100 Jahre später aus Frankreich vertrieben.
Die Ethik des Calvinismus gewinnt für den sich in den nächsten Jahrhunderten entwickelnden modernen Kapitalismus eine erhebliche Bedeutung. Ihr Credo lautet: Wer reich und erfolgreich ist, auf dessen Leben und Wirken ruht der Segen Gottes. Im Umkehrschluss heißt das natürlich, dass Armut und Misserfolg auf ein nicht gottgefälliges Leben zurückzuführen sind. Diese Sicht der Welt gilt bald weit über den Kreis der Anhänger Calvins hinaus. Sie rechtfertigt im Denken der westlichen Gesellschaften die Reichtümer, die von den Wenigen auf Kosten der Vielen angesammelt werden und entlastet bis heute das Gewissen der Besitzenden.
Der Schweizer Ulrich Zwingli wird nach seinen Studien Pfarrer und kommt 1519 nach Zürich. Seine Begegnung mit Erasmus von Rotterdam, eine überwundene Pesterkrankung und die Schriften Luthers führen ihn an die Seite der Reformation. In Zürich provoziert er die Kirchenoberen mit einer spektakulären Aktion. Im März 1522 findet er sich mit Freunden zu einem deftigen Wurstfrühstück zusammen – und das während der Fastenzeit. Die Empörung ist groß, Zwingli verteidigt die in den Augen der Kirche sündige Tat und widerspricht öffentlich der geltenden Lehre. Der Züricher Stadtrat gibt nach und beschließt eine neue Kirchenordnung. Nichts soll bleiben, was nicht aus der Bibel zu begründen ist. Zwingli ist ein streitbarer Querkopf. In Marburg trifft er mit Luther zusammen und disputiert mit ihm über das richtige Verständnis des Abendmahls. Als er versucht, den Protestantismus in der ganzen Schweiz durchzusetzen, kommt es zum Krieg gegen die katholischen Kantone. Er stirbt auf dem Schlachtfeld.
Der Revolutionär und Theologe Thomas Müntzer hat später vor allem die Fantasie der modernen sozialistischen Denker beflügelt. Sie idealisieren ihn als einen der ersten Kommunisten der Neuzeit. Müntzer ist ein Radikaler, aber er bleibt mit seinem Denken und Handeln doch tief in seiner Epoche verhaftet. Zunächst Inhaber verschiedener Pfarrstellen, wird er von Luther an die Zwickauer Hauptkirche vermittelt. Obwohl hochgebildet gerät Müntzer immer stärker
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