Die Geschichte der Deutschen
der am Vortag festgenommenen Männer. Am 21. März zur Mittagsstunde reitet Friedrich Wilhelm durch Berlin, am Arm die verhasste und noch wenige Tage zuvor verbotene schwarz-rot-goldene Binde. Vor dem Pferd des Königs flattert die Revolutionsfahne. Am Ende seines Rundritts verneigt er sich öffentlich vor den toten Barrikadenkämpfern. Zuvor schon erlässt er eine Proklamation, in der er die »Märzforderungen« der Liberalen erfüllt: Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit, politische Gleichberechtigung aller Staatsbürger, Volksbewaffnung, unabhängige Justiz und die Einberufung eines deutschen Nationalparlaments. Die preußischen Demonstranten haben gesiegt.
Fast überall in Deutschland gehen in diesen Frühlingswochen die Menschen auf die Straßen, bauen Barrikaden und kämpfen für die Erfüllung der »Märzforderungen«, die in allen Ländern deckungsgleich sind. In Mannheim wird eine badische Volksversammlung einberufen, in Wien herrschen die Studenten und Bürgerwehren, Metternich verlässt fluchtartig die Stadt, etwas später flieht der österreichische Kaiser Ferdinand I. nach Innsbruck. In München tritt König Ludwig I. zurück. In Dresden kommt es zu besonders schweren Barrikadenkämpfen, und Sachsens König weicht in die Provinz aus. Die Revolution überrollt Deutschland. Niemand weiß, an welchem Punkt sie zu stoppen sein wird. In |136| kürzester Zeit geben die Fürsten nach, stimmen den geforderten Freiheiten zu und setzen so genannte »Märzregierungen« ein. Ihre Mitglieder kommen vielfach aus dem Lager des liberalen Bürgertums. Es ist eine Nationalrevolution in Deutschland ausgebrochen und folgerichtig tritt in der Frankfurter Paulskirche dann auch bald ein Nationalparlament zusammen. Es ist ein großer Augenblick in der Geschichte der Deutschen.
Am 31. März bildet sich mit Zustimmung des Bundestages ein aus 574 Mitgliedern bestehendes Vorparlament. Es beschließt die Einberufung einer Nationalversammlung, die eine Reichsverfassung erarbeiten und verabschieden soll. Ein vom Vorparlament gewählter Fünfziger-Ausschuss tagt als eine Art Übergangsgremium, das die Wahlen zur Nationalversammlung vorbereiten soll. Ein allgemeines, gleiches Wahlrecht, das freilich die Frauen ausschließt, soll entscheiden, wer als Parlamentarier einen Platz in der Paulskirche erhält. Am 18. Mai wird die deutsche Nationalversammlung eröffnet.
Es sind etwa 585 Abgeordnete, die nun über die Zukunft Deutschlands entscheiden sollen. Die Zahl schwankt, weil beispielsweise die Böhmen sich weigern, ihre Abgeordneten zu wählen. Sie wollen damit gegen die Herrschaft der Habsburger über ihr Land protestieren. Einige Gewählte erscheinen gar nicht erst in Frankfurt. Die Paulskirchen-Parlamentarier stammen aus allen Schichten der Bevölkerung, aber Angehörige des wohlhabenden Bürgertums, Juristen, Verwaltungsbeamten, Professoren sind in der Mehrheit. Parteien, wie wir sie kennen, gibt es in Frankfurt noch nicht. Aber viele Abgeordnete schließen sich in lockeren Bündnissen zusammen, die nach den Orten in der Mainmetropole benannt sind, an denen sie sich treffen. Im »Deutschen Hof« sammelt sich die Linke, ihre radikale Gruppierung im Lokal »Donnersberg«. Im »Steinernen Haus«, dann im »Café Milani« trifft sich die Rechte. Die zahlenmäßig stärkste, allerdings in sich zersplitterte Gruppe der Mitte tagt in der »Mainlust«. Alle drei Gruppierungen wollen Veränderungen. Die Konservativen setzen sich für eine starke, mehr ständisch als parlamentarisch kontrollierte Monarchie ein. Die bürgerlichen Liberalen plädieren für eine freiheitliche Verfassung, die neben den Grundrechten besonders auch die Handels- und Berufsfreiheit berücksichtigt. Die Linken sind gespalten. Die Vorstellungen der Radikalen gehen in sozialen Fragen weit über das hinaus, was die bürgerlichen Abgeordneten wollen. Zum »Reichsverweser« wird der Habsburger Erzherzog Johann gewählt, ein Sohn von Kaiser Leopold II.
Über Monate debattieren die Männer in der Paulskirche über die Grundrechte. Es ist eines der Hauptthemen ihrer Beratungen. Später, als wieder die |137| Demokratieverächter in Deutschland das Sagen haben, kommt der Vorwurf auf, diese lange Diskussion habe zu viel Zeit gekostet, und die Gegner in den Herrscherhäusern hätten das zu ihren Gunsten nutzen können. Eine »Schwatzbude« sei die Paulskirche gewesen und ein »Professorenparlament«, spotten die Kritiker. Das ist sicher falsch, denn was diese von sehr
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