Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
innezuhalten und Atem zu schöpfen. Aber gegen Abend verging plötzlich ihre Tollheit. Einen Augenblick blieb sie wie verwundert stehen, und dann fiel sie völlig erschöpft, wie vom Schlag getroffen, ohnmächtig in ein Farndickicht. Und dort, zwischen den vorjährigen Farnwedeln und den frischen Trieben des Frühjahrs, lag sie und schlief wie ein Kind.
Am Morgen erwachte sie und begrüßte das Licht wie jemand, der zum ersten Mal ins Leben gerufen wird. Alle Dinge, die sie sah, erschienen ihr neu und fremd, und sie hatte keine Namen für sie. Denn hinter ihr lag nur eine dunkle Leere, aus der keine Erinnerung an etwas drang, das sie gekannt hatte, und nicht das Echo eines einzigen Wortes. Sie erinnerte sich nur an einen Schatten von Furcht, und darum war sie auf der Hut und hielt immer nach Verstecken Ausschau; wenn irgendein Geräusch oder Schatten sie erschreckte, kletterte sie auf einen Baum oder schlüpfte ins Dickicht, hurtig wie ein Eichhörnchen oder ein Fuchs, und von dort spähte sie lange mit scheuen Blicken durch die Blätter, ehe sie ihren Weg fortsetzte.
Indem sie in die Richtung weiterzog, die sie zuerst eingeschlagen hatte, kam sie zum Teiglin, wo sie ihren Durst stillte. Aber sie fand nichts Essbares und wusste auch nicht, wo sie etwas suchen sollte, und sie war hungrig und fror. Weil ihr die Bäume auf der anderen Seite des Flusses dichter und dunkler vorkamen (das waren sie tatsächlich, denn sie bildeten den Saum des Waldes von Brethil), durchquerte sie ihn schließlich und kam auf eine grüne Anhöhe. Dort warf sie sich zu Boden, denn sie war am Ende ihrer Kräfte, und es schien ihr, als hole das Dunkel sie wieder ein, das hinter ihr lag, und die Sonne verfinstere sich.
Doch in Wahrheit war es ein schwarzer Sturm, der von Süden heraufzog, mit Blitzen geladen und regenschwer, und sie lag dort zusammengekauert auf der Anhöhe, und der dunkle Regen prasselte auf ihren nackten Körper, und sie starrte wortlos wie ein wildes Tier, das gefangen ist.
Es begab sich nun zufällig, dass einige der Waldmenschen von Brethil vorbeikamen, die um diese Zeit von einemZug gegen die Orks zurückkehrten und über die Teiglin-Stege zu einer nahegelegenen Schutzhütte hasteten. Ein gewaltiger Blitz leuchtete auf, der den Haudh-en-Elleth wie mit einem weißen Feuer erhellte. Da wich Turambar, der die Männer anführte, zurück, bedeckte seine Augen und erschauerte; denn ihm war, als sehe er die geisterhafte Gestalt eines toten Mädchens auf Finduilas’ Grabhügel liegen.
Aber einer der Männer rannte zu der Anhöhe und rief ihm zu: »Hierher, Herr! Hier liegt eine junge Frau, und sie lebt!« Turambar kam hinzu und hob sie auf. Das Wasser rann aus ihren durchnässten Haaren, doch sie hielt die Augen geschlossen, zitterte und wehrte sich nicht. Über ihre Nacktheit verwundert, warf Turambar seinen Umhang über sie und trug sie zu der Jagdhütte in den Wäldern. Dort zündeten sie ein Feuer an, wickelten sie in Decken, und sie öffnete ihre Augen und blickte die Männer an. Und als ihr Blick auf Turambar fiel, trat ein Leuchten in ihr Gesicht, und sie streckte eine Hand nach ihm aus. Es war ihr, als habe sie endlich etwas gefunden, das sie in der Dunkelheit gesucht hatte, und sie fand Trost darin. Turambar aber nahm ihre Hand, lächelte und sagte: »Nun, junge Frau, willst du uns nicht deinen Namen sagen und den deiner Sippe und uns erzählen, was dir Böses zugestoßen ist?«
Da schüttelte sie den Kopf und sagte nichts, sondern begann zu weinen. Sie bedrängten sie nicht weiter, bis sie sich, ausgehungert wie sie war, an den Speisen gesättigt hatte, die sie ihr geben konnten. Und als sie gegessen hatte, seufzte sie und legte ihre Hand wieder in Turambars Hand, und er sagte: »Bei uns bist du sicher. Hier kannst du den Rest der Nacht ruhen, und am Morgen werden wir dich zu unseren Wohnungen oben im Hochwald bringen. Aber wir würdengern deinen Namen wissen und aus welcher Familie du stammst, damit wir sie finden und ihr Nachricht von dir geben können. Willst du es uns nicht sagen?« Aber wiederum gab sie keine Antwort und weinte.
»Sei unbesorgt«, sagte Turambar. »Vielleicht ist die Geschichte zu traurig, um sie jetzt zu erzählen. Doch einen Namen will ich dir geben, und so nenne ich dich Níniel, das Tränenmädchen.« Und bei diesem Namen sah sie auf, schüttelte den Kopf, wiederholte aber: »Níniel.« Dies war das erste Wort, das sie nach ihrer Zeit der Dunkelheit sprach, und es blieb für immer ihr
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