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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Nächstes stand Bernard über mir.
    Entschuldigung! Ich hatte nicht mitbekommen, dass hier jemand ist. Ist Ihnen schlecht?
    Ich sprang auf. Wenn das Wort springen für meine Bewegungsabläufe überhaupt taugt, war dies der Moment. Und genau da sah ich es. Es stand auf einem Regal, direkt hinter seiner Schulter. In einem silbernen Bilderrahmen. Klar zu sehen, würde ich sagen, wenn ich den Ausdruck je verstanden hätte. Was könnte unklarer sein als sehen?
    Bernard wandte sich um.
    Oh, das , sagte er und nahm es vom Regal. Schauen wir mal. Das ist meine Mutter, als sie noch ein Kind war. Meine Mutter, sehen Sie? Haben Sie sie so gekannt, wie sie auf dem Bild aussieht?
    «Stellen wir uns unter einen Baum», sagte sie. «Warum?» – «Weil es schöner ist.» – «Vielleicht solltest du auf einem Stuhl sitzen, und ich stehe hinter dir, wie es immer ist bei Mann und Frau.» – «Das ist blöd.» – «Warum soll es blöd sein?» – «Weil wir nicht verheiratet sind.» – «Sollen wir Händchen halten?» – «Bloß nicht.» – «Aber warum?» – «Darum, weil es dann alle wüssten.» – «Was wüssten sie?» – «Das mit uns.» – «Und was, wenn sie es wüssten?» – «Es ist besser, wenn es ein Geheimnis bleibt.» – «Warum?» – «Dann kann niemand es uns wegnehmen.»
    Isaac hat es bei ihren Sachen gefunden, nachdem sie gestorben war, sagte Bernard. Ein hübsches Foto, nicht wahr? Keine Ahnung, wer der Junge ist. Sie hatte nicht viel von drüben. Ein paar Fotos von ihren Eltern und Schwestern, das ist alles. Natürlich konnte sie sich nicht vorstellen, sie nie wieder zu sehen, also hat sie nicht viel mitgebracht. Aber das hier hatte ich noch nie gesehen, bis Isaac es bei ihr zu Hause in einer Schublade fand. Es steckte in einem Umschlag, zusammen mit ein paar Briefen. Alle auf Jiddisch. Isaac glaubte, sie seien von einer alten Liebe aus Slonim. Aber ich bezweifle das. Sie hat nie jemanden erwähnt. Sicher verstehen Sie kein Wort von dem, was ich da sage, oder?
    «Hätte ich eine Kamera», sagte ich, «würde ich jeden Tag ein Bild von dir machen. Dann könnte ich mich erinnern, wie du an jedem einzelnen Tag in deinem Leben ausgesehen hast.» – «Ich sehe immer gleich aus.» – «Nein, tust du nicht. Du veränderst dich die ganze Zeit. Jeden Tag ein ganz klein wenig. Könnte ich, würde ich Buch darüber führen.» – «Wenn du so schlau bist, wie habe ich mich heute wohl verändert?» – «Zum einen bist du um den Bruchteil eines Millimeters größer geworden. Dein Haar ist um den Bruchteil eines Millimeters länger. Und deine Brüste sind um den Bruchteil eines –» – «Sind sie nicht!» – «Doch, sind sie.» – «Eben NICHT.» – «Eben wohl.» – «Was sonst, du altes Ferkel?» – «Du bist etwas glücklicher und auch etwas trauriger geworden.» – «Was heißt, das hebt sich gegenseitig auf, und ich bin genau gleich geblieben.» – «Ganz und gar nicht. Die Tatsache, dass du heute etwas glücklicher geworden bist, ändert nichts an der Tatsache, dass du auch etwas trauriger geworden bist. Jeden Tag wirst du beides etwas mehr, was bedeutet, dass du genau jetzt, in diesem Augenblick, so glücklich und so traurig bist wie noch nie in deinem Leben.» – «Wie willst du das wissen?» – «Denk mal nach. Bist du je glücklicher gewesen als jetzt, da du hier im Gras liegst?» – «Ich glaube nicht. Nein.» – «Und bist du je trauriger gewesen?» – «Nein.» – «Das ist nicht bei jedem so, weißt du. Manche Menschen, wie deine Schwester, werden jeden Tag nur glücklicher und glücklicher. Und manche Menschen, wie Beyla Asch, werden nur immer trauriger und trauriger. Und manche Menschen, wie du, werden beides.» – «Was ist mit dir? Bist du jetzt so glücklich und so traurig, wie du es noch nie gewesen bist?» – «Natürlich bin ich das.» – «Warum?» – «Weil nichts mich so glücklich macht und nichts so traurig wie du.»
    Meine Tränen fielen auf den Bilderrahmen. Zum Glück war das Glas da.
    Bernard und ich standen zusammen und betrachteten das Foto. Am liebsten bliebe ich hier, um in Erinnerungen zu schwelgen, sagte er, aber ich muss wirklich gehen. Die ganzen Leute drüben , gestikulierte er. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas brauchen. Ich nickte. Er zog die Tür hinter sich zu, und dann, Gott sei mir gnädig, nahm ich das Foto und steckte es mir in die Hose. Die Treppe runter, und draußen war ich. In der Einfahrt klopfte ich ans Fenster einer Limousine. Der Fahrer

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