Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
kehrte ich zu meiner Droschke zurück, ohne irgendeinen Entschluss treffen zu können.
Als der Kutscher mich sah, kam er mir mit geheimnisvoller Miene entgegen und erklärte, dass ein hübsches Fräulein seit einer Stunde im Wagen auf mich warte; sie habe sich nach mir erkundigt und dabei eine Beschreibung gegeben, an der er mich erkannt habe, und als sie erfahren habe, dass ich wiederkommen wolle, habe sie gesagt, sie werde geduldig auf mich warten.
Ich meinte sogleich, es sei Manon. Ich trat näher; doch ich blickte in ein hübsches kleines Gesicht, das nicht das ihre war. Sie war eine Fremde, die mich zunächst fragte, ob sie die Ehre habe, mit Monsieur Le Chevalier des Grieux zu sprechen. Ich sagte, das sei allerdings mein Name.
«Ich soll Ihnen einen Brief übergeben», fuhr sie fort, «der Sie davon in Kenntnis setzen wird, was mich hierher bringt und welchen Umständen ich die Ehre verdanke, Ihren Namen zu kennen.»
Ich bat sie, mir die Zeit zu lassen, ihn in einer benachbarten Schänke zu lesen. Sie wollte mir folgen und riet mir, nach einem Nebenzimmer zu verlangen. «Von wem ist der Brief?», fragte ich, als ich die Schänke betrat; sie sagte, ich solle ihn zunächst lesen.
Ich erkannte Manons Handschrift. Etwa Folgendes teilte sie mir mit: G… M… habe ihr einen galanten und glanzvollen Empfang bereitet, der all ihre Vorstellungen überstiegen habe. Er habe sie mit Geschenken überhäuft; er habe ihr das Leben einer Königin in Aussicht gestellt. Sie versichere mir gleichwohl, dass sie mich in diesem neuen Glanz nicht vergessen werde; doch da sie G… M… nicht dazu zu bewegen vermocht habe, sie des Abends in die Comédie zu begleiten, müsse sie das Vergnügen, mich zu sehen, auf einen anderen Tag verschieben; und um mich ein wenig über den Schmerz hinwegzutrösten, den mir – wie sie sich vorstellen könne – diese Nachricht bereiten werde, habe sie eines der hübschesten Mädchen von Paris dafür gewinnen können, mir ihre Zeilen zu überbringen. Unterschrift: «Ihre treue Geliebte, Manon Lescaut ».
Dieser Brief hatte etwas so Grausames und Beleidigendes, dass ich, für eine Weile in der Schwebe zwischen Zorn und Schmerz, mich zwingen wollte, meine undankbare und wortbrüchige Geliebte auf ewig zu vergessen. Ich richtete die Augen auf das Mädchen vor mir: Sie war ausnehmend hübsch, und ich hätte mir gewünscht, sie wäre es in einem Maße gewesen, dass ich meinerseits wortbrüchig und untreu geworden wäre. Doch fand ich bei ihr nicht diese anmutigen und schmachtenden Augen, diesen göttlichen Wuchs, diese von Amor erschaffene Samthaut, kurz, jenen unerschöpflichen Fundus an Reizen, welchen die Natur an die treulose Manon verschwendet hatte.
«Nein, nein», sagte ich und wandte meinen Blick von ihr ab, «die Undankbare, die Sie geschickt hat, wusste sehr wohl, dass sie Ihnen einen aussichtslosen Auftrag gab. Kehren Sie zu ihr zurück, und richten Sie ihr von mir aus, sie möge ihr Verbrechen genießen, und sie möge es ohne Reue genießen, wenn sie denn kann. Ich gebe sie unwiderruflich auf, und ich entsage zugleich allen Frauen, die, können sie auch nicht so liebenswert sein wie sie, zweifellos ebenso niederträchtig und ebenso falsch sind.»
Nun schickte ich mich an, die Schänke zu verlassen und auf und davon zu gehen, ohne weiter Anspruch auf Manon zu erheben, und da die tödliche Eifersucht, die mir das Herz zerriss, sich als trübsinnige und finstere Gleichgültigkeit maskierte, glaubte ich mich meiner Heilung umso näher, als ich keine jener heftigen Gemütswallungen verspürte, die mich seinerzeit aus gleichem Anlass erschüttert hatten. Doch ach, die Liebe hielt mich geradeso zum Narren, wie ich mich von G… M… und Manon zum Narren gehalten glaubte.
Als das Mädchen, das mir den Brief überbracht hatte, sah, dass ich im Begriff war, die Treppe hinabzusteigen, fragte sie mich, was sie denn nun Monsieur de G… M… und der Dame, die bei ihm sei, ausrichten solle.
Bei dieser Frage trat ich in das Zimmer zurück, und in einem Umschwung, der unvorstellbar ist für jemanden, der nie gewaltige Leidenschaften empfunden hat, fand ich mich aus der Gelassenheit, in der ich mich glaubte, abrupt zu einem furchtbaren Zornesausbruch hingerissen.
«Geh», sagte ich zur ihr, «und berichte dem Verräter G… M… und seiner treulosen Buhle von der Verzweiflung, in die dein verfluchter Brief mich gestürzt hat, doch warne sie auch, dass sie nicht lange darüber lachen werden und dass
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