Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
verhindern, dass jemand heraufkommt, während ich drinnen bin.» Ich drang ungehindert bis zu ihren Gemächern vor.
Manon war mit Lektüre beschäftigt. Da hatte ich nun Gelegenheit, den Charakter dieses merkwürdigen Mädchens zu bewundern. Weit davon entfernt, erschrocken zu sein und ängstlich zu erscheinen, als sie mich bemerkte, ließ sie nur geringe Zeichen der Überraschung erkennen, wie man sie nicht unterdrücken kann beim Anblick eines Menschen, den man fern glaubt.
«Ach, Sie sind es, mein Geliebter», sagte sie und kam auf mich zu, um mich mit ihrer gewohnten Zärtlichkeit zu umarmen. «Guter Gott, wie kühn Sie sind! Wer hätte Sie heute an diesem Ort erwartet?»
Ich machte mich aus ihrer Umarmung los, und weit davon entfernt, ihre Zärtlichkeiten zu erwidern, stieß ich sie voller Verachtung von mir und trat zwei oder drei Schritte zurück, um Abstand von ihr zu gewinnen. Diese Geste brachte sie dann doch aus der Fassung. Sie erstarrte in ihrer Haltung, richtete die Augen auf mich und erbleichte. Im tiefsten Inneren war ich so beglückt, sie wiederzusehen, dass ich trotz der vielen gerechten Gründe, zornig zu sein, einige Mühe hatte, den Mund zu öffnen, um sie zu schelten. Gleichwohl blutete mir das Herz ob der grausamen Demütigung, die sie mir zugefügt hatte. Ich rief mir diese eindringlich in Erinnerung, um meinen Unwillen anzustacheln, und ich mühte mich, meine Augen von einem anderen Feuer als dem der Liebe blitzen zu lassen. Als ich einige Augenblicke in Stillschweigen verharrte und sie meine Erregung bemerkte, sah ich, wie sie zitterte, was offenbar eine Auswirkung ihrer Furcht war.
Diesen Anblick konnte ich nun nicht ertragen. «Ach, Manon», sagte ich mit sanfter Stimme zu ihr, «ungetreue und eidbrüchige Manon! Wo soll ich mit meinen Klagen beginnen? Ich sehe Sie bleich und zitternd, und ich bin für die geringsten Ihrer Schmerzen immer noch so empfänglich, dass ich fürchte, Ihnen mit meinen Vorhaltungen gar zu sehr zuzusetzen. Allerdings, Manon, ich sage Ihnen doch, dass der Schmerz ob Ihres Verrates mir das Herz durchbohrt. Solche Schläge versetzt man einem Geliebten nicht, es sei denn, man hat seinen Tod beschlossen. Es ist nun das dritte Mal, Manon, ich habe sie wohl gezählt, denn derlei vergisst man nicht. Es ist an Ihnen, hier und jetzt zu überlegen, wessen Partei Sie ergreifen wollen, denn mein betrübtes Herz hält einer so grausamen Behandlung nicht länger stand. Ich spüre, dass es erliegt und vor Schmerz brechen will. Ich kann nicht mehr», fügte ich hinzu und sank in einen Sessel, «ich habe kaum Kraft, zu sprechen und mich aufrecht zu halten.»
Sie antwortete mir nicht, doch als ich saß, fiel sie auf die Knie, legte ihr Kinn auf die meinen und barg ihr Gesicht in meinen Händen. Sogleich spürte ich, wie sie sie mit ihren Tränen netzte.
Götter! Welch Gemütsbewegungen erschütterten mich! «Ach, Manon, Manon», hob ich seufzend wieder an, «es ist reichlich spät, mir mit Tränen zu begegnen, nachdem Sie mir schon den Tod gegeben haben. Sie spiegeln eine Traurigkeit vor, die zu empfinden Sie gar nicht fähig sind. Die größte Ihrer Beschwerlichkeiten ist zweifellos meine Gegenwart, die Ihren Freuden allezeit im Weg stand. Öffnen Sie die Augen, sehen Sie, wer ich bin! So zärtliche Tränen vergießt man nicht um einen Unglücklichen, den man verraten hat und den man grausam verstößt.»
Sie küsste mir die Hände, ohne ihre Haltung zu verändern.
«Wankelmütige Manon», fuhr ich fort, «undankbares Mädchen ohne Treu und Glauben, wo sind Ihre Versprechungen und Schwüre? Tausendfach flatterhafte und grausame Geliebte, was tatest du mit der Liebe, die du mir noch heute geschworen hast?» Und ich setzte hinzu: «Gerechter Himmel, so also macht eine Ungläubige sich über dich lustig, nachdem sie dich derart fromm zum Zeugen anrief? Meineid wird also belohnt? Und Verzweiflung und Einsamkeit sind der Lohn für Beständigkeit und Treue.»
Diese Worte waren von so bitteren Gedanken begleitet, dass ich darüber wider Willen einige Tränen vergoss. Das bemerkte Manon an dem veränderten Klang meiner Stimme. Endlich brach sie das Schweigen. «Ich muss wohl schuldig sein», sagte sie traurig zu mir, «da ich Ihnen anscheinend so viel Schmerz und Seelenpein verursacht habe; doch möge der Himmel mich strafen, wenn ich schuldig zu sein glaubte oder es zu werden im Sinne hatte!»
Diese Rede erschien mir so bar jeden Sinnes und jeder Aufrichtigkeit, dass ich mich
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