Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut - Roman
die Kraft, dem Himmel dafür zu danken, dass er mir Bewusstsein und Verstand zurückgab. Mein Tod hätte nur mir selbst genützt. Ich musste am Leben bleiben, um Manon zu befreien, um ihr zu helfen, um sie zu retten. Dem wollte ich mich ohne Schonung widmen, das schwor ich.
Der Schließer ließ mir Hilfe zukommen, wie ich sie nur vom besten meiner Freunde hätte erwarten können. Ich nahm seine Dienste voll lebhafter Dankbarkeit an. «Ach», sagte ich zu ihm, «Sie also sind gerührt von meinen Leiden? Alle anderen lassen mich im Stich. Selbst mein Vater ist ohne Zweifel einer meiner grausamsten Verfolger. Niemand hat Erbarmen mit mir. Sie allein, an diesem Ort der Grausamkeit und Barbarei, zeigen Mitgefühl für den elendesten aller Menschen!»
Er gab mir den Rat, mich nicht auf der Straße sehen zu lassen, solange ich mich von dem argen Zustand, in dem ich mich befand, nicht ein wenig erholt hätte. «Gemach, gemach», sagte ich im Fortgehen, «ich werde Sie eher wiedersehen, als Sie glauben. Richten Sie mir den finstersten Ihrer Kerker her; ich werde danach trachten, ihn mir zu verdienen.»
Tatsächlich beabsichtigte ich zunächst nichts Geringeres, als mich der beiden G… M… und des Generalleutnants zu entledigen und anschließend mit allen, die ich für meine Fehde gewinnen konnte, unter Waffengewalt das Hôpital zu erstürmen. Selbst auf meinen Vater hätte ich kaum Rücksicht genommen bei meinem Rachezug, der mir nur allzu gerecht erschien, denn der Schließer hatte mir nicht verhehlt, dass dieser und G… M… für mein Unglück verantwortlich waren.
Doch nachdem ich ein paar Schritte durch die Straßen gelaufen war und die Luft mein Blut und meine Galle ein wenig gekühlt hatte, wich meine Wut allmählich vernünftigeren Regungen. Der Tod unserer Feinde wäre Manon nur wenig von Nutzen gewesen, und zweifellos hätte er dazu geführt, dass ich aller Mittel, ihr zu helfen, beraubt gewesen wäre. Und hätte ich mich überhaupt auf einen feigen Meuchelmord verlegt? Gab es keinen anderen Weg, um Rache zu nehmen?
Ich sammelte all meine Kräfte und all meinen Witz, um zunächst die Befreiung Manons zu bewerkstelligen, und verschob alles andere auf die Zeit nach dem geglückten Ausgang dieser gewaltigen Unternehmung. Ich hatte nur noch wenig Geld übrig. Dabei war das eine unabdingbare Grundlage, für die es als Erstes zu sorgen galt. Mir blieben nur drei Personen, von denen ich solches erhoffen konnte: Monsieur de T…, mein Vater und Tiberge. Die Aussicht, von den beiden Letzteren etwas zu erhalten, schien gering, und ich schämte mich, Ersteren mit meiner Aufdringlichkeit zu behelligen. Doch ist Verzweiflung nicht dazu angetan, Rücksicht walten zu lassen.
Ich ging auf der Stelle zum Seminar von Saint-Sulpice, ohne mich darum zu scheren, dass man mich erkennen könnte. Ich ließ Tiberge rufen. Schon bei seinen ersten Worten bemerkte ich, dass er über meine letzten Abenteuer noch nicht unterrichtet war. Deshalb änderte ich meinen vorgefassten Plan, nämlich ihn durch Mitleid zu erweichen. Ich sprach zu ihm ganz allgemein von der Freude, die es mir bereitet hätte, meinen Vater wiederzusehen, und bat ihn dann, mir etwas Geld zu leihen, und zwar unter dem Vorwand, ich wünschte vor meiner Abreise aus Paris noch einige Schulden zu begleichen, die ich lieber geheim halten wolle. Er streckte mir sogleich seinen Geldbeutel hin. Ich nahm fünfhundert von den sechshundert Franc, die ich darin vorfand. Ich bot ihm an, einen Wechsel zu unterschreiben, aber er war zu großzügig, um darauf einzugehen.
Von dort ging ich zu Monsieur de T… Bei ihm bedurfte es keiner Zurückhaltung. Ich offenbarte ihm mein ganzes Unglück und meinen ganzen Schmerz: Er wusste bereits alles bis in die kleinsten Umstände, denn er hatte es sich angelegen sein lassen, das Abenteuer des jungen G… M… zu verfolgen; gleichwohl hörte er mir mit tiefem Bedauern zu. Als ich ihn um Rat fragte, mit welchen Mitteln Manon zu befreien wäre, antwortete er traurig, er sehe da kaum eine Möglichkeit, und wenn der Himmel keine außerordentliche Hilfe sende, so müsse man alle Hoffnung fahren lassen; er habe sich eigens zum Hôpital begeben, nachdem man sie dort eingeliefert habe; nicht einmal ihm sei gestattet worden, sie zu sehen; die Befehle des Generalleutnants der Polizei seien von äußerster Strenge, und das Schlimmste bei all dem Unglück sei, dass die unglückliche Schar, der sie sich anschließen müsse, schon am übernächsten Tag
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