Die Geschichte eines schoenen Mädchens
wie vergoldet. Der Mann hatte einen so fürsorglichen und sanften Eindruck gemacht. Martha erinnerte sich an einen der verwirrendsten Momente am letzten Abend: Der Polizist hatte behauptet, dass Lynnie und Nummer Zweiundvierzig zu ihrer eigenen Sicherheit in Gewahrsam genommen werden mussten, kurz darauf widersprach er sich selbst und deutete an, Martha wäre in Gefahr. Was entsprach der Wahrheit?
Ein Sonnenstrahl erreichte das Fenster. Zu dieser Tageszeithatte sie sich noch nie im Speicher aufgehalten, deshalb war ihr niemals aufgefallen, wie die aufgehende Sonne das ziegelförmige Glas erleuchtete. Und sie hatte bis jetzt den Riss in der unteren Ecke nicht bemerkt, der ein Prisma herausschnitt. Sie legte den Finger auf den Riss. Das Glas gab sofort nach, als hätte es nur darauf gewartet, befreit zu werden, und frische Luft strömte in die stickige Dachkammer. Gerade dieses kleine Stückchen Himmel und der Anblick des noch immer nassen Feldes verschafften ihr Klarheit; und sie war imstande, den ersten Schritt des Tages zu wagen.
Es ist kein großer Schritt, dachte Martha, als sie die Leiter hinunterstieg, einen Koffer unter dem Bett hervorzog und die Schlösser aufschnappen ließ. Anders als Earl, der immer weit im Voraus geplant hatte, hatte sie sich noch gar nichts zurechtgelegt. Earl war der Meinung gewesen, dass ein Plan das Chaos überwindet, Martha hingegen hatte seine Sicherheit nie geteilt; sie hatten das Kinderzimmer sorgfältig geplant und eingerichtet und trotzdem das grausamste Chaos, das man sich vorstellen konnte, nicht abgewendet. Deshalb hatte Martha ihre Planungen auf den Unterricht der nächsten Woche beschränkt oder – seit ihrer Pensionierung – auf die Weihnachtstage in ihrem Haus. Doch der junge Tag hatte ihr ins Gedächtnis gerufen, dass Lynnies Schule die Suche wieder aufnehmen würde. Sie musste verhindern, dass diese Leute hörten, wenn das Baby weinte – also mussten sie beide weg von hier.
Eins nach dem anderen – erst musste sie ein paar Sachen zusammenpacken. Ein Baumwollkleid, eine Strickjacke, ein Nachthemd, eine Garnitur Unterwäsche – gerade genug für einen Tag. Vielleicht genügte das nicht, also legte sie noch etwas für einen zweiten dazu.
Sie brachte den Koffer in ihr Arbeitszimmer, ließ dieLeiter zum Dachboden zwar aufgeklappt, holte das Kind jedoch noch nicht herunter; es gab noch mehr zu erledigen.
Martha nahm die Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck aus dem Regal. Dort befanden sich ein paar Nikoläuse, Elfen und Engel in Puppengröße, die eine untersetzte, rotwangige Schülerin namens Eva Hansberry ihr im Laufe der Jahre geschenkt hatte. Eva, ein stilles Mädchen, führte einen Laden in Well’s Bottom, wo sie mit ihrem Mann Don und einem halbwüchsigen Sohn lebte. Der Laden war seit Jahrzehnten im Besitz von Dons Familie; man erhielt dort Lebensmittel in Dosen, Waschmittel, Hustensaft und Limonade, und jedes Jahr gab Eva, wenn sie die Lieferung von Weihnachtsdekoration bekam, etwas davon an Martha weiter. Martha mochte diese kitschigen Figuren nicht, aber sie hob sie auf, weil sie von Eva waren, die die Kleidung aus Brokat und Pelz selbst nähte. In der Nacht, als Martha gegrübelt hatte, was sie dem Neugeborenen anziehen konnte, waren ihr diese winzigen Kleider eingefallen.
Jetzt jedoch zögerte sie. Welcher Erwachsene würde sich mit einem so gekleideten Baby sehen lassen? Ein wunderlicher Mensch? Ein religiöser? Ein kitschig veranlagter? Martha sah jede Menge Bilder vor sich, aber keines davon entsprach ihr selbst auch nur im Entferntesten. Aber dann gebot sie sich Einhalt. Nichts von dem, was einem Kind so früh im Leben widerfuhr, würde seine Persönlichkeit beeinflussen, und es gab keine Garantie, dass jemand, der sich heute um das Baby kümmerte, es auch noch morgen tun würde. Martha packte die Puppenkleider ein.
Danach überlegte sie, wohin sie fahren sollte. Sie brauchte eine Bleibe für die nächsten ein, zwei Tage. Genauso wichtig war, dass sie die richtige Nahrung, Windeln und Kleidung besorgte und sich Rat einholte, wie manmit einem Neugeborenen umging. Ihr kam die Erleuchtung: Eva. Ihr Geschäft mochte für eine Übernachtung unpassend sein, aber alles Notwendige und mütterliche Erfahrung würde sie dort finden. Der Laden öffnete um acht Uhr morgens, also in einer Stunde – so lange würde sie für die Fahrt dorthin brauchen.
Martha nahm ihr Adressbuch aus der Schreibtischschublade. Neben der Tankstelle auf dem Weg nach Well’s
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