Die Geschichte eines schoenen Mädchens
über den Rücken gelaufen, nachdem sie die Eier eingesammelt und Earl das Frühstück gemacht hatte und bevor sie sich in den Buick setzte, um in die Schule zu fahren. Selbst nach dem Tod ihres Kindes, als das Haus ganz still geworden war, empfand sie, wenn sie aus dem Küchenfenster schaute und beobachtete, wie Earl mit der Wollkappe auf dem Kopf über die Felder schritt, um seine morgendlichen Pflichten zu erfüllen, eine tiefe Dankbarkeit für die Gewissheit, dass jeden Morgen die Sonne aufging. Und ihre Sehnsucht nach dem, was sie verloren hatte, wurde leichter. Jetzt erledigte sie all die Arbeiten allein, und manchmal war sie danach so aufgewühlt, dass sie am liebsten aus einem der kleinen Fenster im oberen Stock aufs Dach geklettert wäre und den Morgen damit verbracht hätte, den Himmel von dort aus zu betrachten. Doch auch wenn sie ihre Schüler oft für ihren Mut gelobt hatte, war Unbesonnenheit nicht ihre Sache. Als sie letzte Nacht in ihrem Dachboden hockte, über den Säugling wachte und sich klar wurde, welch riesige Aufgabe ihr ohne jede Warnung, Anweisung oder Bedenkzeit auferlegt worden war, fiel ihr nichts ein, wohin sie ihren Blick lieber gewendet hätte alszum Himmel. Vielleicht konnten ihr die endlosen Tiefen und das Wissen helfen, dass die Erdumdrehung immer einen neuen Tag bringen würde, eine Lösung zu finden, wie sie die Existenz dieses Kindes verheimlichen konnte.
Auf dem Speicher konnten sie nicht bleiben. Hier war es stickig und düster, und das Babygeschrei würde man noch auf der Straße hören. Außerdem tat Kindern die Einsamkeit nicht gut. Martha erinnerte sich an Lehrer, die versuchten, Klassenclowns und unverbesserliche, aber kluge Schüler zu disziplinieren, indem sie sie einsperrten, aber ihrer Ansicht nach schränkte man mit Arrest die Fähigkeiten von Kindern nur ein. In ihrer Zelle konnten sie nichts von anderen lernen, und der Klasse fehlte der Einfallsreichtum und Geist der intelligenten Kameraden. Bei Tagesanbruch war Martha zu einem Entschluss gekommen: Das Kind musste zwar vor den Behörden versteckt werden, aber wenn es den ganzen Tag oder – Gott allein wusste es – die nächste Woche bei Martha bleiben sollte, brauchte es Freiheit und frische Luft zum Atmen.
Es gab noch drängendere Probleme: Ich bin mutterseelenallein mit einem Baby und habe nur Kuhmilch und weder Windeln noch Babykleidung im Haus . Ihr wurde flau im Magen. Ihr war ein Rätsel, was in einem solchen Fall zu tun war. Zwar hatte sie Earl bei den neugeborenen Tieren auf der Farm geholfen und die Kinder ihrer ehemaligen Schüler auf dem Schoß gewiegt, aber was Füttern, Windelnwechseln und Anziehen betraf, war sie ahnungslos. Was, wenn ich versage? Warum sind sie ausgerechnet zu mir gekommen? Wieso habe ich zugelassen, dass mir die Mutterschaft versagt geblieben ist und Earl mich dieser Aufgabe beraubt hat?
Hör auf damit , rief sie sich zur Ordnung. Selbstmitleid ist ein ärgerer Feind als Unwissenheit. Im Augenblick konnte sie solche Überlegungen nicht brauchen, sie musste sich um das Nötigste kümmern.
Sie holte tief Luft, nahm sich zusammen und konzentrierte sich auf ihre Möglichkeiten. Ihr fiel ein, dass eine ehemalige Schülerin, die letzte Weihnachten mit Mann und drei Kindern aus Brooklyn zu Besuch gewesen war, Babynahrung bei ihr vergessen hatte. Martha hatte die Dose mit dem Pulver aufbewahrt, um sie in diesem Jahr zurückzugeben. Sie fand sie in der Speisekammer und las die Gebrauchsanweisung. Dort stand, dass man die Flaschen abkochen musste, bevor man diese Milch einfüllte. Sie suchte in ihren Schränken und war drauf und dran, sich für ein Einweckglas zu entscheiden, als ihr die kleinen Flaschen einfielen, mit denen Earl mutterlose Kälber gefüttert hatte. Sie kochte sie ab, befüllte sie und stellte sie laut Anweisung auf der Dose in den Kühlschrank. Nur eine Flasche nahm sie mit hinauf. Im Wäscheschrank fand sie Handtücher, die sie zerschneiden und zu Windeln umfunktionieren konnte, und Waschlappen, um das Baby zu säubern. Diese provisorischen Mittel halfen ihr über die Nacht auf dem Dachboden hinweg, während sie den Säugling unbeholfen fütterte und wickelte.
Jetzt, während sich das rosa Licht in Gold verwandelte und der Säugling in dem Korb schlief, rückte Martha nah ans Fenster. Es war recht klein, aber wenn sie sich ein wenig verrenkte, sah sie das erste Glühen der Sonne über den Baumwipfeln im Osten. Der Wald, in dem der Flüchtige verschwunden war, sah aus
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