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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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auf.
    Homan starrte auf den Bildschirm. Kein Mädchen, das einen Rollstuhl braucht, springt plötzlich auf und wird zur Ballerina! Vielleicht gibt es in der Bibel Wunder wie das mit den Broten und den Fischen, aber das hier ist ein Trick. Egal, was der Prediger mit dem hüpfenden Haar sagt, oder wie vehement er mit den Armen fuchtelt, Beine, die sich nicht bewegen, heilen nicht einfach so. Genauso wenig können blinde Augen heilen oder kranke Gehirne oder …
    Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er begriff.
    Am nächsten Morgen erwachte Homan und sah das schöne Mädchen, das neben ihm im Heu lag, und die Kleine, die auf ihnen herumkroch. Jetzt war ihm klar, was los war, und dieses Wissen half ihm, seinen Plan zu verfeinern. Er war vorbereitet, als ihm die Silberfrau gute Kleider gab.
    Er ging in sein Zimmer, zog das weiße Hemd und die gebügelte Hose an und holte den kleinen Koffer hervor, der mit Konserven und Ersatzkleidung gefüllt war. Das Buch legte er unter das Bett. Auch die Schuhe, die sieihm gegeben hatten, ließ er zurück, und schlüpfte in seine eigenen, frisch gewienerten Stiefel. Als er mit seinem Koffer erschien und sich neben die beiden Jungs stellte, die ebenfalls herausgeputzt waren und ihre Koffer in den Händen hatten, lächelten die Silbernen, sie ahnten nicht, dass Homan etwas im Schilde führte.
    Sie stiegen alle ins Auto. Auf der Fahrt über die lange Straße erkannte Homan eine Schwierigkeit, die er nicht bedacht hatte. Der Bezopfte saß auf einer Seite, neben ihm der Dürre auf der anderen – wie zwei Wärter. Er tippte mit den Füßen und schlug mit den Handflächen leicht auf seine Schenkel. Alle bewegten die Lippen – vermutlich redeten sie über ihn. Wahrscheinlich berieten sie, wie sie ihn zu dem Prediger auf die Bühne bekommen konnten.
    Er richtete den Blick auf seine Knie und schüttelte fassungslos den Kopf.
    Der Koffer, den er zwischen die Beine geklemmt hatte, belastete sein Gewissen. Hier saß er und war drauf und dran, ihnen die Gastfreundschaft mit Diebstahl und Flucht zu entlohnen. Ihr Vorhaben mochte sinnlos sein, aber sie taten nur, was sie für richtig hielten, und das machte sie zu besseren Menschen als die vielen Nichtsnutze, denen Homan im Laufe der Jahre begegnet war. Sie waren anständig, gaben ihm zu essen und ein sauberes Bett, ohne ihm hässliche Blicke zuzuwerfen. Vielleicht bist du ihnen was schuldig , dachte er. Vielleicht solltest du einfach in diese Kirche gehen und machen, was sie wollen. Außerdem könnte es ja sein, dass sie mehr wussten als er, und der Prediger hatte tatsächlich die Macht, ihm das Gehör wiederzugeben.
    Homan hatte, seit er die McClintocks kennengelernt hatte, keinen Gedanken mehr daran verschwendet, sein Gehör zurückzubekommen. Jetzt erinnerte er sich, wie sie sich mit ihren Händen verständigt und viele, viele Geschichtenerzählt hatten. Ihm fiel wieder ein, wie sie bei dem Erweckungsgottesdienst im Baum gesessen, sich an die Fenster gedrückt und die Gesänge, der Beifall, das Reden und das Jubeln durch die Scheiben auf ihrer Haut getanzt hatten. Danach hatte ihm sein Hörvermögen nicht mehr gefehlt. Na ja, es gab Zeiten, in denen er sich danach gesehnt hatte, die Stimme des schönen Mädchens zu hören, und sicherlich würde er gern die ersten Worte der Kleinen mitbekommen. Und es war nicht zu bestreiten, dass er nicht in dieser misslichen Lage wäre, wenn Fremde seine Gebärden verstehen könnten. Aber könnte ihn das echte Hören vergessen lassen, wie man Dinge mit den Augen, der Haut, Nase und Mund wahrnahm? Und was, wenn er nach der Behandlung des Predigers nur schlecht hörte – wie ein unscharfes Fernsehbild?
    Er sah die Kirche durch die Windschutzscheibe. Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab und hoffte, sie würden auf dem vorderen Parkplatz stehen bleiben, dann war es nur ein Katzensprung über die Kreuzung zur Tankstelle. Doch als sie näherkamen, sah er, dass sich vor der Kirche Menschen in Rollstühlen oder mit Gehstöcken und Krücken drängten. Der Silbermann lenkte das Auto auf den hinteren Parkplatz, der ziemlich weit weg von der Tankstelle und den Trucks war. Homan würde sich wohl oder übel in den Saal führen lassen müssen, und wenn er schnell überlegte, fand er vielleicht einen Platz, an dem er seinen Koffer verstecken konnte. Und in einem unbeachteten Moment könnte er die Flucht ergreifen.
    Sie fädelten sich in den Strom der Menge ein, die durch das große Portal in die Kirche ging,

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