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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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sie mit offenem Mund da und hielt die Luft an.
    »Ich hab eigentlich gedacht, dass man heute keine Kleider mehr aus Futtersäcken macht«, sagte sie schließlich.
    »Natürlich, die meisten Leute brauchen das auch nicht mehr zu tun.« Willadee hörte sich ungefähr so fröhlich an, wie sie sich im Augenblick fühlte – wie eine Verkäuferin, die jemandem eine Ware zu verkaufen versucht, die derjenige gar nicht haben will. »Aber du brauchst Kleider, und die Jungen brauchen Hemden. Du hast immerhin die erste Wahl.«
    Swan hätte am liebsten gesagt, sie wolle zurück in die Stadt, um sich dort ein Stück glänzende Baumwolle und ein paar hübsche Ösen auszusuchen, doch etwas an dem tapferen Lächeln ihrer Mutter hielt sie davon ab. Sie atmete tief durch und starrte erneut auf die Stoffe. Nach reiflichem Überlegen verkündete sie ihre Entscheidung. »Du wirst die Jungs nie dazu kriegen, Rosa oder Lavendel zu tragen, also werde ich die Stoffe nehmen. Bienville und Noble können dann die blauen und die grünen haben.«
    Willadee atmete erleichtert aus. Sie hatte auf Swan gesetzt, und es hatte sich gelohnt.
    »Das heißt also, dass wir jetzt richtig arm sind?«, fragte Swan.
    »Nicht richtig arm. Richtig arme Leute haben nichts zu essen und können es sich nicht leisten, zum Arzt zu gehen, wenn sie krank sind. Es gibt noch einen Unterschied zwischen arm und vorsichtig sein.«
    Swan seufzte. »Es ist wohl noch nicht abzusehen, wie lange wir vorsichtig sein müssen, oder? Ich fänd’s nämlich blöd, wenn wir Weihnachten noch immer vorsichtig sein müssten.«
    »Wenn wir Weihnachten noch immer vorsichtig sein müssen, dann finden wir bestimmt irgendetwas, um euch zu entschädigen«, versprach Willadee.
    Der September kam. Der erste Tag eines neuen Schuljahrs war für Swan immer ein großes Ereignis gewesen, aber diesmal sah sie ihm mit gemischten Gefühlen entgegen. Positiv war, dass Blade neben ihr im Schulbus saß. Er blickte zu ihr auf und war so aufgeregt, dass er gar nicht still sitzen konnte. Onkel Toy hatte ihm bei einem Versandhandel eine schwarze Augenklappe gekauft, sodass er jetzt wirklich aussah wie ein Pirat – ein kleiner, verschmitzter Pirat. Nun, wo er in einer Umgebung lebte, in der er keine Angst haben musste, kam sein wahres Wesen zum Vorschein. Er war voller Lebensfreude, übermütig und unbekümmert. Der stille und verängstigte kleine Junge, der er mal gewesen war, war verschwunden, und man hätte ihn nicht wiederfinden können, selbst wenn man mit der Wünschelrute nach ihm gesucht hätte.
    Willadee hatte ihm Hemden aus den Resten genäht, die sie von den Sachen der anderen Kinder übrig hatte – von allen Kindern –, und an diesem Morgen hatte er darauf bestanden, das Hemd anzuziehen, das zu Swans Kleid passte. Swans Kleid war pink mit kleinen gelben Blümchen. Bienville hatte aufgestöhnt, und Noble hatte ihm gesagt, dass die anderen Jungen ihn für einen Waschlappen halten würden, aber das kümmerte Blade nicht.
    Negativ war für Swan der Bus selbst. Sie war immer zu Fuß zur Schule gegangen und hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie es sein könnte, in einem Bus mit einem Haufen vierschrötiger Farmerskinder, die aussahen, als hätten sie vor dem Frühstück bereits mit jungen Ochsen gekämpft, durch die Gegend zu schlingern. Blade kam in diesem Jahr in die dritte Klasse, war also schon ein alter Hase im Busfahren. Er erklärte ihr, es sei nichts dabei, sie müsse nur ganz schnell rüberrutschen, wenn eins der großen Kinder versuchen sollte, sich auf sie zu setzen.
    Die Schule war in Emerson. Sämtliche Klassen von eins bis zwölf waren in einem Gebäude zusammengepfercht. Swan hatte viel Erfahrung mit neuen Schulen, in denen sie niemanden kannte, also machte ihr das nichts aus. Allerdings bedrückte sie, dass sie nicht mehr wusste, wer sie eigentlich war. Sie wusste nicht einmal, was sie auf dem Anmeldebogen unter »Beruf des Vaters« eintragen sollte, also ließ sie die Zeile frei. Ihr Vater hatte seine Identität verloren und damit auch sie die ihre. Es mochte zwar einige Nachteile haben, das Kind eines Predigers zu sein, aber es war zumindest etwas. Jetzt war sie ein Niemand. Zumindest brauchte sie sich keine Sorgen darüber zu machen, dass sich jemand über ihr Futtersackkleid lustig machen würde. Keines der anderen Mädchen trug ein Kleid, das es an Kunstfertigkeit mit dem von Willadee genähten aufnehmen konnte.
    Bienville kam besser mit der Situation zurecht als Swan. Ihn

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