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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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interessierten nur die Bücher. Wenn niemand ihn beachtete, umso besser. Dann hatte er mehr Zeit zum Lesen. Und wenn andere Schüler sich mit ihm zanken wollten? Dann stellte er ihnen Fragen, die sie nicht beantworten konnten, über Dinge, von denen sie noch nie etwas gehört hatten, bis sie ihn entweder in Ruhe ließen oder so neugierig wurden, dass sie ihm Fragen stellten, die er beantworten konnte , und dann konnte er sich ausgiebig über alles Mögliche auslassen.
    Noble erging es am schlimmsten. Vielleicht lag es an seiner dicken Brille, dass die Rowdys an der Schule ihn sofort als ein leichtes Opfer ausmachten. Oder weil sich seine Stimme überschlagen hatte, als er am ersten Schultag aufstehen und sich vorstellen sollte. Jedenfalls war er den Bauernjungen nicht gewachsen, und auch der Versuch, sich in einen Baum zu verwandeln, funktionierte nicht. Als die Mittagspause vorbei war, hatten ein paar Rabauken ihn bereits zusammengeschlagen und an den Füßen über den Schulhof gezogen. Am Nachmittag kam er mit einem blauen Auge und Hautabschürfungen an beiden Armen nach Hause.
    »Das Tapferste, was ein Mann tun kann, ist, einem Kampf aus dem Weg zu gehen«, riet Samuel ihm beim Abendessen.
    Noble starrte auf seinen Teller. Er hatte den gesamten Nachmittag in seinem Zimmer verbracht, weil er sich so sehr schämte, dass er niemanden sehen wollte.
    »Man kann aber schlecht etwas aus dem Weg gehen, wenn man an den Füßen gezogen wird«, wandte Swan ein. Sie regte die ganze Sache furchtbar auf.
    »Es geht doch darum, dass man es gar nicht so weit kommen lässt«, sagte Samuel. »Es wird immer Menschen geben, die Streit suchen. Wenn wir uns auf deren Niveau hinabbegeben, sind wir nicht besser als sie. Und das willst du doch wohl nicht, oder, Noble?«
    Noble blickte immer noch nicht auf. Oma Calla häufte eine Extraportion Rinderbraten und Kartoffelpüree auf seinen Teller und ertränkte alles in Bratensauce.
    »Iss, damit du mehr Fleisch auf die Knochen kriegst«, sagte sie. »Raufbolde trauen sich nicht an Leute ran, von denen sie glauben, dass die vielleicht den Fußboden mit ihnen aufwischen könnten.«
    Samuel schüttelte ernst den Kopf. »Aber Calla, das ist doch auch keine Lösung. Ganz gleich, wie stark er wird, es wird immer jemanden geben, der stärker ist.« Und zu Noble gewandt fügte er hinzu: »Was ich dir sagen will, mein Sohn: Du musst innerlich stark sein.«
    Noble hielt seine Gabel fest umklammert und stach auf seinen Rinderbraten ein.
    »Ich glaube nicht, dass innere Stärke mir helfen wird, diese Jungen davon abzuhalten, mich windelweich zu prügeln«, sagte er. »Die haben beschlossen, mich fertigzumachen, also werden sie das auch tun.«
    Samuel ließ sich nicht beirren. Er hatte eine Sicht der Dinge, die für ihn funktionierte, und er war überzeugt, dass sie demnach für die gesamte Menschheit funktionieren müsse.
    »Ich denke mal, dass die sich heute schon abreagiert haben. Du musst versuchen, ein paar gute Seiten an diesen Jungen zu sehen. Das mag zunächst vielleicht unmöglich erscheinen, doch wenn du genauer hinguckst, wirst du sie finden. Und dann, das garantiere ich dir, dann wird sich auch ihre Einstellung dir gegenüber ändern.«
    Toy erhob sich vom Tisch. Damit es nicht so aussah, als würde er weggehen, weil er anderer Meinung als Samuel war – obwohl es sich genau so verhielt –, rieb er sich den Bauch und sagte zu Willadee, das Essen habe sehr gut geschmeckt, er hoffe nur, er habe nicht zu viel gegessen und sich den Magen verdorben. Als er hinter Nobles Stuhl vorbeiging, drückte er dem Jungen kräftig die Schulter.
    »Ich muss am Truck von deinem Großvater den Motor ausbauen, und dabei könnte ich ein bisschen Hilfe brauchen. Wenn du also irgendwann diese Woche Zeit hast …« Toy würde sich zwar nicht anmaßen, Samuel zu sagen, wie er seinen Sohn zu erziehen hatte, aber schließlich hatte er selbst das verdammte Recht, den Jungen so zu behandeln, wie er es wollte: wie einen Mann.
    Noble blickte tatsächlich auf.
    »Yessir«, sagte er. »Ich werd mir die Zeit nehmen.«

28
    Als Toy am nächsten Tag auf die Moses-Farm kam, begann er sofort damit, die Motorhaube von Papa Johns altem Pick-up zu entfernen. Er hatte die erste Schraube herausgedreht und wollte sich gerade der zweiten widmen, als der Schulbus vor dem Haus hielt. Toy blickte auf, weil er erwartete, dass Noble schnurstracks zu ihm laufen würde, doch der Junge trottete mit gesenktem Kopf und gebeugten Schultern über

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