Die Geschichte eines Sommers
sich an ihn.
»Ist alles okay mit uns beiden?«, fragte sie.
»Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, Willadee«, sagte er.
Doch von Tag zu Tag wurde es für Sam Lake schwerer, alles zu ertragen. Er sagte zu niemandem ein Wort darüber, wie sehr er sich als Versager fühlte. Ließ sich nicht anmerken, wie sehr es ihn quälte, dass die Beziehung zwischen Toy und den Kindern immer enger wurde. Auch wenn er sich im Grunde für Toy freute. Der kinderlose Mann war für Samuels Kinder plötzlich zu einem Helden geworden. Genauso wie für einen Sohn von Ras Ballenger.
Manchmal, wenn Samuel morgens aufwachte, war Toy bereits mit den Kindern zum Teich gefahren, um mit ihnen zu angeln. Kam er am Nachmittag nach Hause, waren die Kinder häufig mit Toy auf dem Hof und rechten Blätter zusammen, die sie später mit Toy verbrannten. Oder grillten mit Toy Würstchen. Oder kamen gerade von einer gemeinsamen Wanderung aus dem Wald. Samuel sah, wie Toy sie anknurrte, sie herumkommandierte und sie liebte. Er spürte, wie eine Leere in dem Mann gefüllt wurde. Er wusste, dass Toy mit den Kindern die Dinge teilte, die er mit niemandem mehr hatte teilen können, seit sein jüngerer Bruder gestorben war. Den Wald. Das Wasser. Seine Welt. Samuel freute sich wirklich für Toy, tat sich aber gleichzeitig selbst leid. Er fühlte sich schlecht, weil er meinte, er habe alle im Stich gelassen. Wenn er in den Spiegel blickte, erkannte er sich selbst nicht mehr.
Samuel war untröstlich. Mit seiner Fidel ging er zum Schwimmloch, setzte sich ans Ufer und lauschte dem Wind in den Pappeln, und als er mit seinem Bogen über die Saiten strich, gelang es ihm nur, den Cottonwood Song zu spielen. Die Musik glitt über das Wasser, schwebte durch den Wald und kam schluchzend zu ihm zurück. Samuel vergoss keine einzige Träne. Das tat seine Fidel für ihn.
29
Ras Ballenger hielt generell nicht viel von anderen Leuten, aber die Familie Moses hasste er wie die Pest. In den Monaten seit der Geschichte mit Odell Pritchett waren seine Geschäfte deutlich zurückgegangen. Außerdem fiel Ras auf, dass die Leute hinter vorgehaltener Hand tuschelten, wenn er in die Stadt fuhr, um Futter für sein Vieh zu kaufen. Der Hass, den er für seine Nachbarn empfand, war bereits zu einer giftigen Eiterbeule herangewachsen, die ihn jetzt Tag und Nacht quälte. Dennoch zog ihn das Grundstück der Moses seit Neuestem wie magisch an. Er hatte sich angewöhnt, zu allen möglichen Zeiten dort vorbeizufahren, nur um zu sehen, was sich da abspielte.
Gegenüber dem Haus von Calla lag ein fünfundzwanzig Hektar großes Stück Land, das einer Familie namens Ledbetter gehörte, die dort Baumwolle angebaut hatte, bis Carl Ledbetter vor ein paar Jahren gestorben und seine Frau Irma in die Stadt gezogen war. Jetzt gab es dort nur noch ein freies Feld voller Gestrüpp, einen von giftigem Efeu überwucherten Wiegeschuppen und ein Schild mit der Aufschrift » GÜNSTIG ZU VERKAUFEN «, das ein Betrunkener eines Nachts umgefahren und niemand wieder aufgestellt hatte. Manchmal fuhr Ras spät in der Nacht mit seinem Truck auf dieses Feld, parkte hinter dem Wiegeschuppen und beobachtete stundenlang das Grundstück der Moses.
Ein echter Jäger steht vor dem Morgengrauen auf, geht in den Wald und tötet sein Wild bei Sonnenaufgang. Dann vertreibt er sich die Zeit, bis er bereit ist, wieder nach Hause zurückzukehren. Toy war ein echter Jäger, doch da das »Never Closes« durchgängig nachts geöffnet hatte, war er jetzt meistens erst im Wald, wenn der Tag bereits angebrochen war, das Sonnenlicht durch die Bäume fiel und helle Flecken auf die Erde malte.
Gegen Ende Oktober begann es überraschend zu regnen, und es kühlte ab. Als Toy am späten Nachmittag aufwachte, stellte er fest, dass der Regen aufgehört hatte und die Luft frisch und klar war. Es kostete ihn große Überwindung, die Bar zu öffnen, denn eigentlich sollte niemand die ganze Nacht an so einem Ort verbringen.
Bootsie Phillips, der nichts dagegen gehabt hätte, den Rest seines Lebens an so einem Ort zu verbringen, betrank sich in dieser Nacht so sehr, dass er vom Barhocker fiel und unter einen Tisch rollte. Toy und die übrigen Stammgäste ließen ihn dort liegen. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Als gegen vier Uhr morgens alle anderen gegangen waren und Bootsie immer noch unter dem Tisch lag, kam Toy der Gedanke, dass Traditionen ja gut und schön seien, man aber deshalb noch lange kein
Weitere Kostenlose Bücher