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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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erreichte, kehrte Ras Ballenger nach Hause zurück, nahm sein Gewehr aus dem Gewehrständer, überquerte den Hof und verschwand im Wald. Er hatte zwar keine Ahnung, wo Toy Moses hinwollte, aber so lief eine Jagd halt ab. Man suchte nach Fährten und Spuren, versuchte so zu denken wie das Wesen, das man jagte, und verursachte möglichst keinerlei Geräusche.
    Manchmal denkt man nicht und träumt auch nicht. Man erwartet nichts, wünscht sich nichts und braucht nichts. Man will einfach nur sein . Genau diesen Zustand gönnte sich Toy gerade, als die Morgendämmerung alles in ein sanftes silbergraues Licht tauchte. Er war einfach nur. Er hockte am Ufer des Baches und blickte ins Wasser, beobachtete, wie es um ihn herum immer heller wurde, sich Ton für Ton der Farbe des Himmels anpasste. Ein Blatt schwamm auf der Wasseroberfläche. Es war von einem leuchtenden Orange, leicht gewellt und bildete einen starken Kontrast zu dem plätschernden silbrigen Nass. Toy konnte seine Augen kaum davon losreißen. Der Anblick war absolut vollkommen.
    Als Toy vornüberfiel, hatte er den verrückten Eindruck, das Blatt käme in rasendem Tempo samt Wasser auf ihn zugeflogen. Er dachte gerade, dass es doch völlig verrückt sei, dass ein Blatt so etwas tat, da hörte er den lauten Knall und wusste, dass jemand auf ihn geschossen hatte.

30
    Millard Hempstead und sein Kumpel Scotty Dumas, der in der Stadt wohnte und Millard mehrmals im Jahr besuchte, um mit ihm auf die Jagd zu gehen, waren an diesem Morgen schon sehr früh im Wald unterwegs. Eigentlich hatten sie es auf Eichhörnchen abgesehen, doch als Scotty ein Razorback sah, musste er einfach darauf schießen. Und weil er zu aufgeregt war, um klar zu denken, feuerte er einfach wild drauflos einen Schuss ab. Leute aus der Stadt sehen diese wilden Schweine nicht besonders oft, und noch viel seltener können sie sich den Kopf von einem solchen Tier als Trophäe sichern, um ihn sich über den Kaminsims zu hängen. Scotty wollte sich diese ungewöhnliche Chance also auf keinen Fall entgehen lassen.
    Er hatte seine Chance bekommen, das Schwein verfehlt, aber nicht genügend Verstand, um es zu merken. Das Schwein wirbelte herum, lief krachend ins Gestrüpp zurück und Scotty hinter ihm her.
    »Ich hab ihn!«, brüllte er zu Millard.
    »Mann, du hast nichts als Scheiße im Gehirn!«, brüllte Millard zurück. »Hättest du das Schwein getroffen, dann wär’ es bloß fuchsteufelswild geworden, sonst nichts. Mit einem Gewehr für Eichhörnchen kann man kein Razorback töten.«
    Aber Scotty hörte nicht zu, sondern lief dem Schwein hinterher. Millard brüllte ihm nach, er solle sofort seinen Arsch aus dem Gestrüpp bewegen, falls er nicht in Einzelteilen zurück nach Hause gebracht werden wolle, doch Scotty war wild entschlossen, sich seine Trophäe zu sichern. Er glaubte, dass irgendwann die Kräfte des Schweins nachlassen würden, wenn es getroffen war. Und wenn er es dann fand, brauchte er nur noch ein einziges Mal zu schießen, um es endgültig zu erlegen.
    Also trampelte Scotty weiter in die Richtung, in die das Schwein gelaufen war, und erreichte schon bald das Ufer des Bachs, an dem Toy Moses kurz vorher noch gesessen hatte. Von dem Schwein war nichts zu sehen. Scotty ging zum Bach und blickte ins Wasser, dann sackten ihm die Beine weg.
    »Millard?«, brüllte er. »Millard, komm sofort her! Ich hab gerade Toy Moses erschossen!«
    Inzwischen hatte Ras Ballenger Toys Spur aufgenommen und keinerlei Mühe, sie zu verfolgen. Der gestrige Regen hatte die Erde aufgeweicht und die Blätter am Boden mit einer Schlammschicht überzogen. Toy hätte genauso gut einen Sack Mais bei sich haben können, in dessen Boden ein Loch war, so leicht war die Fährte zu finden und zu verfolgen. Als Ras den Schuss hörte, wusste er, dass er schon ganz nah dran war, und nahm an, Toy hätte gerade ein Eichhörnchen geschossen. Sein letztes, falls nicht noch eins seinen Weg kreuzte, bevor Ras ihn erwischte. Für diesen Dreckskerl würde bald schon alles vorbei sein.
    Als Nächstes hörte er den Lärm, den Scotty Dumas veranstaltete, als er hinter dem Schwein herlief und dann herumflennte, er hätte Toy Moses erschossen. Ras’ erster Impuls war, auf der Stelle zu verduften, damit niemand erfuhr, dass auch er heute im Wald gewesen war. Doch andererseits: Was könnte ihm das schon schaden? Schließlich hatte er ja nicht den Abzug gedrückt.
    Er lief in die Richtung, aus der die Stimmen – inzwischen waren es zwei

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