Die Geschichte eines Sommers
verdammt noch mal, von nichts und niemandem einen Strich durch die Rechnung machen lassen.
Als sie die Kirche betraten, sang die Gemeinde gerade das erste Lied. Wie sie ihre Herzen im Gesang erheben, dachte Samuel und wurde sofort von einem heftigen Gefühl ergriffen: von der Sehnsucht nach einer eigenen Gemeinde. Die meisten Männer in Samuels Situation hätten sich wahrscheinlich gefragt, ob sie irgendwie Gottes Missfallen erregt hätten, doch nicht so Samuel. Der Gott, den er kannte, war großzügig und gütig, deshalb war Samuel davon überzeugt, dass diese Erfahrung sich letztlich als Segen erweisen würde, vielleicht sogar als der größte Segen seines Lebens. Nichtsdestotrotz schmerzte sie ihn.
Bernice humpelte den Gang entlang, schob sich in die erste freie Kirchenbank und ging so weit durch, dass die anderen ebenfalls Platz hatten. Die Kinder folgten ihr im Gänsemarsch, dann kam Willadee und schließlich Samuel. Swan sang bereits aus voller Kehle, noch bevor sie an ihrem Platz war. Einige Leute drehten sich zu ihr um, was immer geschah, sobald sie den Mund aufmachte und ihre laute Stimme erschallte. Swan fiel das überhaupt nicht auf. Sobald sie sang, befand sie sich in ihrer eigenen Welt. Sie legte ihr ganzes Wesen in die Musik, die wie ein Wasserfall aus ihr herausströmte. Für sie gab es nichts, was mit den Gefühlen vergleichbar wäre, die sie in diesem Moment ergriffen.
Samuel und Willadee stupsten sich an und lächelten. Den Jungen hingegen schien das laute Organ ihrer Schwester eher peinlich zu sein. Bernice stand währenddessen kerzengerade da und starrte geradeaus. Unwillkürlich blickte Samuel in die gleiche Richtung, um herauszufinden, was es da wohl zu sehen gab. Dem dürren, rotgesichtigen Kantor, der pausenlos hin und her lief und mit den Armen im Takt der Musik wedelte, konnte ihr Blick wohl kaum gelten. Bernice schien etwas Regloses zu betrachten, doch wie er Bernice kannte, war es durchaus auch möglich, dass sie einfach nur ins Leere starrte. Sie hatte eine merkwürdige Art, sich in sich selbst zurückzuziehen. Man konnte nie wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging.
Eines war jedenfalls sicher – an diesem Morgen führte sie etwas im Schilde. Samuel nahm an, dass sie ihn wieder einmal zurückgewinnen wollte. Man sollte doch meinen, dass sie das nach all den Jahren längst aufgegeben hätte, doch was bliebe ihr dann noch? Eine Ehe, die sie nie gewollt hatte, mit einem guten Mann, der sie so sehr liebte, dass sie ihn dafür verachtete.
Eigentlich konnte man nicht sagen, dass Bernice Samuel wirklich hinterherrannte. Sie schaffte es nur immer wieder, wenn er in der Nähe war, sich irgendwo so hinzudrapieren, dass er sie nicht übersehen konnte. Außerdem sprach sie mit ihm immer in dieser sanften, honigsüßen Stimme und tat leicht amüsiert. So als würde zwischen ihnen eine starke elektrische Spannung herrschen und sie fände es komisch, wie er versuche, dieser zu widerstehen.
Samuel hingegen behandelte sie so, wie er alle Menschen behandelte: höflich, freundlich und respektvoll. Nie mied er den Blickkontakt zu ihr oder schaute als Erster zur Seite. Allerdings ließ er sich auch nie von ihrem Charme blenden.
Im Gegenteil: In Wahrheit tat Bernice ihm leid. Sie war der einsamste Mensch, den er kannte. Sie war so sehr darauf bedacht, für immer atemberaubend schön zu sein, dass sie gar nicht dazu kam, die Herrlichkeiten des Lebens zu genießen. Er selbst hatte in Bezug auf Bernice nicht mehr das geringste Prickeln verspürt seit dem Tag, an dem er Willadee getroffen hatte. So viel zu einer der Herrlichkeiten seines Lebens. Und so viel auch dazu, wie es ist, wenn einem jemand den Atem raubt. Das bedeutete jedoch nicht, dass Samuel im Umgang mit seiner Schwägerin nicht besonders vorsichtig gewesen wäre. Ein Kabel muss nicht unter Strom stehen, um gefährlich zu sein. Man kann sie auch benutzen, um jemanden zu fesseln. Oder ihn zu erwürgen.
10
Man richtet ein Pferd ab, indem man ihm beibringt, dass das Leben unberechenbar ist und es immer mit einer Strafe rechnen muss. Mit dieser Methode richtete Ras Ballenger jedenfalls Pferde ab. Hätten die Leute, die ihm ihre Tiere anvertrauten, das gewusst, hätten sich die meisten wohl einen anderen Abrichter gesucht.
Ohnehin brachten nur wenige Leute ihre Tiere zu Ras. Es waren die, denen es ausschließlich um das Ergebnis ging. Und das erzielte Ras zweifellos. Er konnte ein Pferd zu fast allem zwingen. Wollte jemand einen Hochtraber, dann
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