Die Geschichte eines Sommers
Kirche zu gehen, wo er doch wusste, dass die Leute ihn fragen würden, warum er denn nicht wieder bei sich zu Hause in Louisiana sei und vor seiner eigenen Gemeinde predige. Es wäre doch sicher erniedrigend für ihn, zugeben zu müssen, dass er keine Gemeinde mehr hatte. Samuel antwortete, er wolle den Herrn nicht enttäuschen, indem er an seinem Tag nicht sein Haus besuche.
»Ich muss einfach nur glauben, dass es einen Grund für all das gibt«, sagte er. »Vielleicht soll ich gerade hier etwas für den Herrn tun, das ich anderswo nicht tun kann. Vielleicht gibt es hier jemanden, dem ich die Hand reichen soll, oder vielleicht ein Problem, bei dessen Lösung ich gebraucht werde.«
Bernice saß senkrecht im Bett.
Im Zimmer nebenan bestärkte Willadee Samuel gerade in seiner Meinung. Es müsse einfach so sein, dass Gott hier eine Aufgabe für ihn hatte, dass er ihn deshalb aus dem sumpfigen Louisiana in das lehmige Arkansas verpflanzt hatte und das Feld hier wahrscheinlich reif für die Ernte war.
Bernice warf ihre Decke von sich und sprang aus dem Bett. Das Feld war absolut reif. Sie selbst war das Feld, und sie war so sehr bereit für die Ernte, dass sie nicht mehr geradeaus gucken konnte.
Bevor Bernice sich’s versah, waren Sam und Willadee bereits dabei, die Kinder ins Auto zu laden. Calla hatte längst den Laden geöffnet, und Toy war, nachdem er die Bar geschlossen hatte, zum Teich gefahren, um ein bisschen zu angeln. Niemand war da, der ihr die Sache hätte vermasseln können. Aber Bernice hatte kaum Zeit, sich das Gesicht zu waschen, die Haare auszubürsten und das Kleid anzuziehen, das sie zu Papa Johns Beerdigung getragen hatte. Es war aus hellgrauem Stoff, am Hals nur wenig ausgeschnitten, einfach perfekt für den Anlass. Züchtig und verführerisch zugleich. Sie legte kein Make-up auf, denn ihre Haut brauchte keins. Außerdem verläuft Make-up, wenn man weint, dann sieht man als Frau einfach nur furchtbar aus. Und sie hatte die feste Absicht, an diesem Morgen zu weinen.
In letzter Sekunde rannte sie aus dem Haus und ließ die Fliegengittertür hinter sich zuknallen. Samuel fuhr mit dem Kopf herum und blickte in ihre Richtung, musste jedoch zwei Mal hingucken, bis er realisierte, was er sah. Es kam nicht alle Tage vor, dass man Bernice Moses rennen sah.
»Ist was passiert, Bernice?«
Sie wartete mit ihrer Antwort, bis sie vor ihm stand, damit er ihr Parfüm riechen konnte.
»Ich wollt’ nur fragen, ob ich vielleicht mit euch zur Kirche fahren darf«, sagte sie ganz leise.
Falls Sam überrascht darüber war, ließ er sich das nicht anmerken. Er lächelte nur sein breites, herzliches und so attraktives Lächeln. »Dann steig ein«, sagte er. »Im Haus Gottes ist immer noch Platz für einen mehr.«
Als ob Gott irgendetwas damit zu tun hätte!
Samuel nahm sie am Arm, führte sie um das Auto herum zur Beifahrerseite, öffnete die Tür, beugte sich hinein und sagte: »Willadee, Bernice möchte mit uns zur Kirche fahren.«
Willadee sah Sam mit einem wissenden Lächeln an und rutschte in die Mitte, um Platz zu machen. Bernice stieg so ein, wie sie es sich bei Filmstars abgeguckt hatte. Elegant ließ sie sich auf den Sitz sinken und schaffte es, gerade genug nackte Haut zu zeigen, um verführerisch zu wirken, während sie ihre Beine ins Auto schwang. Dabei warf sie Samuel einen züchtigen Blick zu, um festzustellen, ob er darauf ansprang. Doch der war nur damit beschäftigt, darauf zu achten, keinem der Kinder beim Schließen der Tür die Finger einzuklemmen.
Bernice hatte sich nicht ausgemalt, wie die Fahrt zur Kirche in der Realität ablaufen würde. Sie hatte sich nur sich und Samuel auf dem Vordersitz vorgestellt und zwischen ihnen Willadee, die sich unbehaglich und hässlich fühlen würde. Samuel würde ihr verstohlen über Willadees Kopf hinweg sehnsüchtige Blicke zuwerfen, und sie würde ihm im Gegenzug gelegentlich ein rätselhaftes Lächeln schenken. Wenn Willadee etwas davon mitbekam, würde sie sicher anfangen zu schmollen, was ausgezeichnet in Bernice’ Plan passte. Denn nichts lässt einen Mann eine andere Frau mehr begehren, als wenn er merkt, dass die eigene entschlossen ist, sich an ihn zu klammern.
Was die Kinder betraf, so waren sie mehr oder weniger nur Farbtupfer im Hintergrund, gehörten sozusagen zur Dekoration. Bernice hatte sich nie viele Gedanken über Samuels Kinder gemacht, allerdings war sie auch noch nie mit allen dreien gleichzeitig in einem Auto eingesperrt
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