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Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
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werden, erklärte Noble. Wenn man sie zu hoch baute, dann würde sie zusammenbrechen. Aber er hatte mal einen Evangelisten gesehen, der so groß gewesen war, dass er sich ganz tief hatte beugen müssen, um die Notizen für seine Predigt lesen zu können, und vielleicht könnte Swan ja auch so tun, als wäre sie sehr groß.
    Swan erklärte ihm, er sei wohl völlig übergeschnappt, wenn er meinte, sie würde sich auch nur über irgendetwas beugen, dann schlich sie sich zum Haus davon. Was bedeutete, dass Noble den Evangelisten spielen musste und Bienville die komplette Gemeinde.
    Während Swan sich irgendwo herumgetrieben hatte, wo sie nichts verloren hatte, waren nicht nur Sid, Nicey und Lovey eingetroffen, sondern auch Alvis und seine Frau Eudora. Ihre Kinder waren in der Stadt im Kino, was Swan und ihren Brüdern verboten war, weil es in Samuels Augen eine Sünde war. Die Erwachsenen lümmelten auf der Veranda und im Hof herum, schnippten mit den Fingern und wippten mit den Füßen im Takt, während Samuel auf seinem fünfsaitigen Banjo »Foggy Mountain Breakdown« spielte. Als er Swan vorbeihuschen sah, hielt er im Spielen inne und rief nach ihr.
    »Hey, kleines Mädchen. Möchtest du nicht ein Lied mit deinem alten Daddy singen?«
    Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Er versuchte ihr die Sache schmackhaft zu machen.
    »Wir könnten ›Faded Love‹ singen.«
    Doch nicht mal der liebliche und harmonische Song konnte sie zum Mitmachen animieren.
    Alvis, der übelste Witzbold von allen, lehnte am größten der alten Eichenbäume auf dem Hof. Aus heiterem Himmel schnappte er sich Swan und begann mit ihr herumzutanzen. Sie riss sich von ihm los, als sei er giftig, und rannte weiter.
    Alvis machte ein verblüfftes Gesicht, roch unter seinen Armen und sagte: »So schlecht kann ich doch gar nicht riechen.«
    Er roch tatsächlich nicht schlecht. Er roch nach Dial-Seife und Old Spice, so wie er immer roch, wenn er nicht arbeitete. Alvis Moses war Automechaniker. Sein halbes Leben war er verschwitzt und voller Schmiere, die andere Hälfte so sauber, dass er glänzte.
    »Sie macht gerade eine schwierige Phase durch«, sagte Oma Calla.
    »Dann solltet ihr gut aufpassen«, riet Alvis. »Solche Phasen können ganz schön anstrengend sein.«
    Swan stapfte auf die Veranda und machte um Lovey einen Bogen, die vor der Fliegengittertür mit ein paar Puppen spielte. Lovey durfte Shorts tragen. Heute hatte sie eine dunkelblaue an und dazu ein niedliches weißes Matrosen-Oberteil. Einen Moment lang überlegte Swan, ob sie sie nicht doch noch zum Schwimmloch schleifen und gründlich taufen sollte. Allerdings wollte sie zu diesem Schwimmloch eigentlich auf gar keinen Fall zurückkehren. Dort lauerten Gefahren, von denen selbst ihre Eltern nichts ahnten.
    Lovey fragte nicht, ob sie mit ihr mit den Puppen spielen wolle, und das war auch gut so. Swan hasste Puppen, und außerdem war ihr im Augenblick überhaupt nicht nach Spielen zumute. Sie wollte nicht mal Radio hören. Stattdessen stürmte sie ins Haus, knallte die Tür hinter sich zu und ging ins Bad, um ihre Schürfwunden mit Mercurochrom zu verarzten – besser unter dem Namen Affenblut bekannt.
    Am liebsten hätte sie ihrem Vater und ihren Onkeln erzählt, dass sie vor Ras Ballenger Todesangst hatte, und sie gebeten, ihn im Auge zu behalten und sie vor ihm zu beschützen. Doch das war unmöglich. Denn wenn sie um Hilfe bat, musste sie auch zugeben, dass sie gegen ein Verbot verstoßen hatte, und dazu fehlte ihr der Mut. Man muss solche Dinge sehr sorgfältig abwägen. Aber wenn sie sich von nun an nur noch in der Nähe des Hauses aufhielt, bestand immerhin eine Chance von mindestens fünfzig Prozent, dass sie Ras Ballenger nicht mehr über den Weg lief. Aber wenn ihre Familie erfuhr, was sie getan hatte, dann war ihre Chance, sich überhaupt noch irgendwo zu verstecken, gleich null.
    In dieser Woche trieb sich mehrmals jemand bei der Familie Moses herum. Sie alle waren an das An- und Abschwellen der Musik aus dem »Never Closes« gewöhnt, an das Knallen von Autotüren, an gedämpfte Stimmen und an Stimmen, die eigentlich hätten gedämpft werden müssen. Man schloss nachts nie die Türen ab und machte sich auch keine Sorgen, dass sich jemand ins Haus schleichen könnte, schließlich war das noch nie passiert. Doch nun bekamen sie des Öfteren Besuch. Türen wurden lautlos geöffnet, Flure erkundet, Treppen leise erstiegen, und niemand in den Schlafzimmern merkte etwas

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