Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
Vom Netzwerk:
davon.
    Manchmal kam der Besucher sogar am helllichten Tag, allerdings wagte er sich dann nicht so nah heran. Am Tag hielt er sich eher im Schuppen auf und beobachtete durch einen Schlitz in der Wand, was die Familie so trieb. Manchmal versteckte er sich auch auf dem Heuboden oder hockte am Waldrand. Geduldig beobachtend, reglos wie ein Stein.
    An einem schwülen Nachmittag stand Samuel in seinem und Willadees Schlafzimmer am Fenster und zupfte ein Lied auf der Gitarre. Ein Lied über die Einsamkeit. Er wusste, dass er eigentlich etwas Fröhlicheres spielen sollte, weil es nicht gut ist, in Melancholie zu schwelgen, aber das traurige Lied ließ ihn nicht los. Er schloss die Augen und ließ die Töne dahingleiten. Einfach nur diese wunderbar traurige Musik zu spüren, das war fast schon wie ein Gebet. Als er die Augen öffnete, schaute er über die Moses-Farm. Es war ein tröstlicher Anblick, obwohl zurzeit alles etwas vernachlässigt aussah. Samuel Lake war selbst ein Farmersjunge gewesen, bevor er Prediger wurde. Er liebte die Erde, ihren Geruch und das Gefühl von ihr an seinen Händen. Liebte, was man aus guter Erde machen konnte, wenn man bereit war, ihr viel Mühe und Schweiß zu opfern.
    Man sollte etwas mit dieser Farm anfangen. Jemand sollte sich liebevoll um sie kümmern und sie wieder in den alten Zustand zurückversetzen. Während er darüber nachdachte, wurde er plötzlich abgelenkt. Auf der alten Heuwiese, halb versteckt hinter dem flaumigen, graugrünen Johanniskrautgestrüpp, hatte er etwas entdeckt. Einen kleinen Jungen, der zum Haus herüberstarrte.
    Von seinen eigenen Kindern war es keins, denn der Junge war kleiner als Samuels drei Sprösslinge und hatte außerdem pechschwarze Haare.
    Da es im Umkreis von mindestens einer halben Meile keine weiteren Häuser gab, hatte Samuel keine Ahnung, wo das Kind hergekommen sein könnte. Er ging die Treppe hinunter und lief auf die Wiese, um es herauszufinden, aber bis auf ein paar Zeichnungen, die jemand an einer kahlen Stelle in den weichen Boden gemalt hatte, deutete nichts darauf hin, dass irgendwer vor Kurzem noch hier gewesen war.
    Blade Ballenger war spurlos verschwunden.

13
    Bernice war klug genug, sich nicht zu ausgiebig darüber auszulassen, wie sehr sich ihr Leben veränderte, seit sie zu Gott gefunden hatte. Sie wusste genau, je mehr man über etwas redete, desto weniger glaubwürdig wirkte man. Also beschloss sie, statt Worten Taten sprechen zu lassen.
    Erstens hatte sie vor, von jetzt an immer in der Kirche zu sein, sobald diese ihre Türen öffnete. Willadee hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass für sie zu Gott zu beten und in die Kirche zu gehen zwei verschiedene Dinge waren, und es kam durchaus vor, dass sie den einen oder anderen Gottesdienst versäumte. Bernice war sich sicher, Willadee in dieser Hinsicht mit ihrem vorbildlichen Verhalten beschämen zu können.
    Zweitens wollte sie Soli singen, sobald jemand ihre schöne Stimme bemerkte und sie darum bat.
    Bernice hatte schon eine ganze Weile nicht mehr gesungen, keinen einzigen Ton, denn wer singt schon, wenn er traurig ist, und sie war lange traurig gewesen. Aber früher, da hatte sie viel gesungen, bevor sie Samuel an Willadee verlor. Musik war eines der Dinge, die sie und Samuel überhaupt zusammengebracht hatten. Damals war Samuel häufig zu ihnen nach Hause gekommen und hatte sich mit Bernice’ Bruder Van auf die Veranda gesetzt, um auf ihren alten Gitarren zu spielen. Bernice hatte sich zu ihnen gesellt und gesungen, was das Zeug hielt, und Samuel war ganz in der Musik aufgegangen. Und in ihr.
    Drittens würde sie wohl ihr Leben ändern müssen, obwohl das Einzige, was sie wirklich ändern wollte, der Mann darin war. Gläubige Menschen redeten doch ständig davon, wie sehr Gott sie verändert hatte, also könnte sie sich doch einfach auch ändern und Gott das Verdienst dafür einheimsen lassen.
    Das würde sie schon hinbekommen. Eine Frau konnte fast alles schaffen, wenn sie nur einen guten Grund dafür hatte. Und Bernice saß diesem Grund jeden Abend am Abendbrottisch gegenüber. Manchmal konnte sie sich kaum beherrschen, die Hände auszustrecken und ihn zu berühren.
    Aber so dumm war sie natürlich nicht. Obwohl es so einfach wäre, würde sie Samuel nicht berühren. Wenn sie ihm beispielsweise das Kartoffelpüree reichte, hätte sie ihre Fingerspitzen kurz die seinen streifen lassen können. Oder sich von hinten über ihn beugen und ihren Körper für eine

Weitere Kostenlose Bücher