Die Geschichte eines Sommers
war eine knorrige alte Weinranke.
Blade hastete zum Rand der Böschung. Er hatte furchtbare Angst, dass Swan Lake jeden Moment aus seinem Leben verschwinden und er nichts dagegen tun könnte.
Er wagte nicht, sie anzusprechen, fürchtete, alles, was er tat, würde das Falsche sein. Aber er musste irgendetwas tun.
Also machte er einen großen Schritt und ließ sich an ihr vorbei ins Wasser plumpsen. So klein, wie er war, gab es noch nicht einmal einen richtigen Platsch, als er in den Bach fiel. Er ging unter, blieb einen Moment verschwunden und kam dann wieder an die Oberfläche.
Swan hatte ihn vorbeifliegen sehen und starrte nun nach unten. Klammerte sich an die Ranke, in der sie sich verfangen hatte, und schaute ihn sprachlos an.
»Lass los!«, brüllte er.
Sie schüttelte den Kopf und umklammerte die Ranke noch fester. »Ich kann nicht schwimmen!«
»Du gehst nur unter und kommst gleich danach wieder hoch«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel.
»Und dann geh ich wieder unter.«
»Nein, tust du nicht. So hab ich schwimmen gelernt. Man hat mich einfach ins Wasser geschmissen.«
Was die Wahrheit war. Als er drei Jahre alt gewesen war, hatte sein Daddy ihn aus einem Boot in einen Teich geworfen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie genau das passiert war, aber er wusste, dass er wie ein Fisch geschwommen war.
Doch Swan kaufte ihm die Geschichte nicht ab.
»Ich lasse aber nicht los! Wenn man drei Mal untergeht, ist man für immer hin.«
»Ich werd dich retten!«
»Und wer rettet dann dich ?«
» Mich braucht niemand zu retten.«
Während er wie ein Hund im Kreis herumpaddelte, sah er tatsächlich nicht so aus, als müsste er gerettet werden, doch Swan wollte kein Risiko eingehen.
»Ich schwinge mich zurück ans Ufer«, sagte sie.
Sie zog die Beine an, stieß sie in die Luft und gelangte – nirgendwohin. Sie versuchte es noch einmal – mit demselben Ergebnis.
»Hol jemanden!«, brüllte sie. Sie hielt sich mit beiden Händen fest und wagte es nicht, eine Hand loszulassen, also deutete sie mit einer ruckartigen Kopfbewegung in die Richtung, wo sie versucht hatten, das Zelt für das Revival Meeting zu errichten. »Hol meine Brüder! Die sind irgendwo dahinten.«
Allerdings konnten ihre Brüder auch nicht schwimmen.
Doch Blade wollte sie nicht allein lassen. Es würde zu lange dauern, Hilfe zu holen. Was, wenn Swan nun den Halt verlor, während er nicht da war? Er konnte das Risiko nicht eingehen. Andererseits war er ziemlich ratlos, wusste nicht einmal genau, was er tun würde, wenn sie die Ranke losließ und direkt neben ihm im Wasser landete. Doch eins wusste er ganz genau: Wenn sie fiel, würde er da sein.
Swan hatte mit ihrem Vater schon oft ältere Gemeindemitglieder besucht, die mit Wonne und in allen Einzelheiten von ihrer letzten Begegnung mit dem Tod berichteten. Meist waren es Herzinfarkte, die höchst dramatisch beschrieben wurden. Swan kannte also die Symptome eines Herzinfarkts in- und auswendig und war sich ziemlich sicher, dass sie gerade einen erlitt. Sie spürte eine Beklemmung im Brustkorb, ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren, und ihr linker Arm wurde allmählich taub. Allerdings handelte es sich bei ihm auch um den Arm, mit dem sie sich in der Weinranke verfangen hatte und den sie sich beinah ausgekugelt hatte. Doch solche Dinge machen sich die Leute meist erst dann klar, wenn sie den Herzinfarkt – oder was auch immer – überlebt haben.
Swan war eigentlich ein optimistischer Mensch, doch jetzt war sie davon überzeugt, dass es nur noch zwei Möglichkeiten für sie gab. Entweder würde sie in der Luft oder aber im Wasser sterben. Als wenige Sekunden später der Schlangenmann wie aus dem Nichts über ihr am Bachufer auftauchte und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, er würde dafür sorgen, dass ihre Füße im Handumdrehen wieder festen Boden unter sich spürten, da tat sich für Swan noch eine weitere Möglichkeit auf.
Vielleicht würde sie ja doch an Land sterben.
12
Ras Ballenger hatte Wichtigeres zu tun, als im Wald nach einem Jungen zu suchen, der immer wieder weglief. In letzter Zeit war Blade nirgendwo zu sehen gewesen, wann immer er ihm seinen Tabak bringen oder eine Kanne Eiswasser aus dem Haus holen sollte. Früher war Blade nur verschwunden, um einer Tracht Prügel zu entgehen, wenn er etwas getan hatte, was er nicht hatte tun sollen – oder um seine Mama nicht flennen zu hören, wenn sie frech geworden war. Doch mittlerweile war Blade wie diese
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