Die Geschichte eines Sommers
doch wenn sie feststellte, dass sie auch das nicht ans Ziel ihrer Wünsche führte, würde sie es sicherlich aufgeben.
Das Schlimmste an der ganzen Sache war aber, dass Toy wieder darunter leiden würde. Und er hatte schon genug gelitten. Das alles erzählte Willadee eines Morgens Samuel, kurz nachdem Toy und Bernice nach Hause gefahren waren. Bernice war beim Frühstück besonders zuvorkommend gewesen, hatte Toy »Schatz« genannt, ihm den Toast mit Butter bestrichen und eine Hand auf seinen Arm gelegt, obwohl sie ihn zu diesem Zeitpunkt vermutlich jahrelang nicht mehr freiwillig berührt hatte. Butter war nicht das Einzige, was sie dick auftragen konnte.
»Ich würde mir keine allzu großen Sorgen um ihn machen«, erwiderte Samuel. Sie waren im Badezimmer und hatten die Tür geschlossen. Willadee hockte auf dem Rand der Badewanne und rasierte sich die Beine, während Samuel am Waschbecken stand und sich das Gesicht rasierte. Drei Wochen waren vergangen, seit er von der Methodistenversammlung zurückgekehrt war, und heute hatte er vor, sich auf Arbeitssuche zu begeben. Er zog eine Gesichtsseite straff, während er mit dem Rasierer darüberfuhr. »Toy sieht doch in letzter Zeit sehr glücklich aus.«
»Gerade das macht mir ja Sorgen. Sie hält ihn mal wieder zum Narren.«
»Aber das wissen wir doch nicht.«
Samuels Stimme klang geduldig und freundlich, hatte beim näheren Hinhören aber einen leicht tadelnden Unterton. Willadee fuhr so schnell herum, dass sie sich am Fußknöchel schnitt.
»Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du dich auch von ihr zum Narren halten lässt«, sagte sie. Ihr Bein brannte wie verrückt, aber etwas anderes schmerzte sie noch viel mehr.
»Ich ergreife doch gar nicht Partei für sie«, protestierte er. »Ich hab nur gesagt, dass wir nicht wissen können, was im Herzen eines anderen Menschen vorgeht.«
»Ich weiß ganz genau, was in ihrem vorgeht.« Sofort hasste Willadee sich für diese Bemerkung. Normalerweise waren sie und Samuel in fast allen Dingen auf einer Wellenlänge. Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagte, aber er rasierte sich, wieder voll konzentriert, weiter. Willadee drehte sich um und setzte ebenfalls ihre Rasur fort. Zum ersten Mal, seit sie fünfzehn war, schnitt sie sich dabei ungefähr ein halbes Dutzend Mal.
Der Himmel war grau verhangen, und die Luft fühlte sich schwer an, als würde jeden Moment ein furchtbares Unwetter losbrechen. Willadee versuchte Samuel zu überreden, zu Hause zu bleiben, aber er wollte nicht, dass seine Kinder ihn untätig herumsitzen sahen, nur weil das Wetter einen bedrohlichen Eindruck machte. Seiner Meinung nach setzte das Wetter genauso wie so viele Menschen die meisten seiner Drohungen nicht in die Tat um. Außerdem stand in der Bibel geschrieben, dass ein Mann, der nicht für seine Familie sorgt, schlimmer sei als ein Ungläubiger. Doch selbst wenn das nicht in der Bibel gestanden hätte, hätte Samuel der Gedanke widerstrebt, weiterhin auf Callas Kosten zu leben.
Er hatte bereits mehrere Telefonate geführt und Briefe verschickt, in denen er Pfarrern, die er seit Jahren kannte, seine Dienste anbot, wenn sie in Urlaub fahren wollten und eine Vertretung brauchten oder wenn sie glaubten, es sei der Wunsch des Herrn, in nächster Zeit ein Revival Meeting abzuhalten, und sie dafür noch einen Evangelisten brauchten.
Dabei sah sich Samuel überhaupt nicht als Evangelist, sosehr er sich auch bemühte. Für ihn war ein Evangelist eine Art einsamer Wolf, der von Herde zu Herde zog und die in die Irre geleiteten Tiere in den Schoß der Gemeinde zurücktrieb. Wobei: »Wolf« war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck, da die Schafe ja bei der Begegnung mit ihm nicht Gefahr liefen, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Außerdem war es nur zu ihrem Besten, dass sie zur Herde zurückgetrieben wurden, die ihr Hirte nicht trieb, sondern führte. Samuel war schlicht und einfach ein Hirte. Er wollte nichts weiter als eine eigene Herde, sie ans stille Wasser führen, sie vor Unglück beschützen, nach den Verlorenen suchen und sie sanft wieder nach Hause bringen, wo Frieden und Sicherheit herrschten. Die Vorstellung, von Ort zu Ort zu reisen, eine Woche hier und zwei Wochen dort zu verbringen und die Leute dann wieder zu verlassen, ohne sie richtig kennengelernt zu haben, behagte ihm überhaupt nicht.
Allerdings hätte er sich in dieser Hinsicht keine Gedanken zu machen brauchen. Alle Seelsorger, die er anrief, hatten bereits ihre
Weitere Kostenlose Bücher