Die Geschichte eines Sommers
zuzusehen, wie er in die Freiheit lief. Dann würde er zurück ins Haus schleichen, sich ins Bett legen und hoffen, dass das Pferd es bis zum Haus von Odell Pritchett schaffte, bevor Ras Ballenger aufwachte und der Teufel los war.
Natürlich hatte Blade keine Ahnung, wie weit es bis nach Camden war oder wie lange man brauchte, um dorthin zu gelangen, oder ob ein Pferd so viel Grips hatte, dass es allein den Weg nach Hause fand, aber er hoffte es.
Als er vor wenigen Minuten durch sein Schlafzimmerfenster gekrochen war, hatten sämtliche Köter die Köpfe gehoben und ihre Augen auf ihn gerichtet. Er hatte befürchtet, sie könnten anfangen zu heulen und alle aufwecken, doch sie hatten ihn seit einiger Zeit schon zwei bis drei Mal pro Woche durch dieses Fenster klettern sehen und fanden das mittlerweile offenbar normal. Sie waren ihm noch nicht einmal über den Hof gefolgt.
Snowman stand, den Kopf vom Tor abgewandt, da und rührte keinen Muskel, als Blade zu ihm in den Pferch kam. Der Junge stellte sich neben ihn, schaute zu ihm auf und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte. Er wusste, dass es falsch wäre, Snowman aus dem Pferch zu jagen, weil das Pferd sich dann aufbäumen und laut wiehern könnte, und dann würden die Hunde anfangen zu bellen, und es wäre die Hölle los. Vielleicht könnte er Snowman ja führen, doch Ras ließ niemals ein Pferd über Nacht am Halfter, also konnte er auch nirgendwo anfassen. Während der Junge noch über seine Möglichkeiten nachdachte, setzte sich Snowman von sich aus in Bewegung und verließ den Pferch.
»Guter Junge«, flüsterte Blade beinah lautlos, »geh weiter. Geh!«
Doch das Pferd blieb vor dem Tor stehen und stellte sich neben den Zaun, als würde es auf etwas warten.
Blade konnte sich überhaupt nicht vorstellen, worauf das Pferd warten sollte. Jedenfalls würde sich ganz gewiss nichts Gutes ereignen, wenn es weiterhin hier wartete. Aber vielleicht wissen Tiere so etwas nicht. Ein Hund läuft normalerweise ja auch nicht von zu Hause weg, ganz gleich, wie schlecht er behandelt wird. Er verschwindet vielleicht ab und zu mal zu einer Hundeversammlung, kommt aber wieder zurück, wenn die Party vorbei ist. Falls er dazu noch in der Lage ist.
Eigentlich hätte Snowman wie der Blitz abhauen müssen, doch stattdessen blieb er reglos wie eine Statue neben dem Zaun stehen. Spontan kletterte Blade auf den Zaun, streckte ein Bein aus und ließ sich auf den Rücken des Pferdes gleiten. Er hoffte inständig, dass ihn sein Glück jetzt nicht verlassen würde, klammerte sich mit beiden Händen in Snowmans Mähne fest, presste die Knie an ihn, um nicht herunterzufallen, und stieß dem großen Pferd seine nackten Fersen sanft in die Seiten, damit es sich von der Stelle bewegte.
»Hier entlang«, murmelte er lautlos vor sich hin. »Nach da drüben, Snowman. Zum Bach. Wir brauchen nur dem Bach zu folgen.«
Zwei Stunden vor Tagesanbruch tat Toy Moses etwas, das sein Vater nie getan hätte. Er schickte einen zahlenden Gast fort.
Bei dem Gast handelte es sich um Bootsie Phillips, einen Holzfäller und einen der treuesten Stammgäste vom »Never Closes«. Man konnte sich darauf verlassen, dass Bootsie immer früh kam, blieb, bis alle anderen nach Hause gegangen waren, und sein Geld bis auf den letzten Cent ausgab. Es kümmerte ihn nicht, dass er zu Hause zahlreiche hungrige Mäuler zu stopfen hatte und das Geld besser für Lebensmittel hätte ausgeben sollen. Auch heute war er in der Bar, seit sie aufgemacht hatte, und mittlerweile so betrunken, dass er sich an der Jukebox festhalten musste, um Münzen einzuwerfen. Trotzdem machte er noch immer keine Anstalten, nach Hause zu gehen. Toy hatte schon mehrmals angedeutet, dass er das doch endlich tun sollte, doch Bootsie war nicht der Typ, der eine Andeutung verstand, selbst wenn man mit dem Zaunpfahl winkte.
Irgendwann fragte ihn Toy, ob er denn vorhätte zu bleiben, bis sein ganzes Geld alle war, und Bootsie sagte, darauf könne er Gift nehmen.
»Einen Augenblick«, sagte Toy, verließ die Bar durch die Hintertür und ging durchs Haus in Callas Lebensmittelladen. Dort packte er Milch, Eier, Brot, Speck, Mehl, einige Konserven und zwei Hände voll Bonbons in eine große Tüte und ging damit zurück durchs Haus in die Bar, wo Bootsie große Mühe hatte, nicht vom Hocker zu fallen.
»Dein Geld ist alle«, sagte Toy.
Bootsie versuchte Toy anzusehen, konnte aber nicht mehr geradeaus gucken.
»Red kein Scheisch«, murmelte er.
Toy
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