Die Geschichte eines Sommers
getötet. Bisher jedenfalls nicht. Aber er hatte auch noch nie ein Pferd so gehasst wie Snowman.
Ras schlug mit der Hand auf den Tisch, was bedeutete, dass er einen Entschluss gefasst hatte. Dann stand er auf, stolzierte zur Tür und hielt auf dem Weg dorthin lang genug inne, um Geraldine einen ordinären Knutschfleck zu verpassen.
Sie reagierte nicht, aber das war auch gar nicht nötig. Ihre Fantasiewelt wartete auf sie. Sie brauchte sich nur wieder in sie hineinzuversetzen. Kaum hatte Ras den Raum verlassen, sah Geraldine bereits alles wieder vor sich. Wie er aufgebahrt vor ihr lag und dabei ganz natürlich wirkte. Und da war auch sie wieder in ihrem hübschen schwarzen Kleid und weinte leise vor sich hin. Um sie herum standen Gemeindemitglieder aus der Kirche des Nazareners, die voller Inbrunst sangen und sie bemitleideten und stützten für den Fall, dass ihre Kräfte versagten.
Blades kleiner Bruder Blue war viereinhalb, hatte lockige Haare, war rund wie ein Teddybär und hielt seinen Daddy für den Größten. Das hätte er wahrscheinlich nicht getan, wäre er so oft geschlagen worden und hätte er die Peitsche so häufig zu spüren bekommen wie Blade, doch so verhielt es sich eben nicht. Blade kreidete ihm das nicht an. Man kann schließlich niemandem vorwerfen, dass er nicht geschlagen wird, bis ihm das Blut an den Beinen hinunterläuft, und dass ihm keiner auf den Kopf haut, bis der voller Beulen ist.
Statt seinem Bruder zu grollen, wollte Blade lieber herausfinden, was Blue richtig und er falsch machte. Er nahm an, dass es etwas damit zu tun haben musste, dass Blue klug und er dumm war. Das erzählte ihnen ihr Daddy jedenfalls ständig.
»Blue, du bist schlau wie ein Fuchs und clever wie ein Eichhörnchen.«
»Blade, du bist so blöd, dass du’s nicht mal merkst.«
Blade wäre gerne genau wie Blue schlau wie ein Fuchs und clever wie ein Eichhörnchen gewesen, nur konnte er einfach nicht verstehen, was an Blue so schlau sein sollte. Er machte immer noch ins Bett, sprach immer noch Babysprache und lutschte immer noch am Daumen. Nur in einer Hinsicht war er ganz offensichtlich clever. Wann immer es möglich war, versuchte er so zu sein wie sein Daddy. Er ging wie er. Er redete wie er. Wenn Ras einen Strohhalm aufhob, ihn sich in den Mund steckte und darauf herumkaute, dann hob Blue ebenfalls einen Strohhalm auf, steckte ihn sich in den Mund und kaute darauf herum. Wenn Ras seine Reithose hochzog und seine Daumen in die Gürtelschlaufen hakte, zog Blue ebenfalls die Hose hoch und hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen. Und trat Ras einen der Köter aus dem Weg, wenn er die Verandatreppe hinunterkam, so trat Blue ebenfalls einen der Köter aus dem Weg, wenn er die Verandatreppe hinunterkam.
Für Ras war es das Saukomischste, was er je gesehen hatte, wie dieser pummelige kleine Bengel so wie sein Alter zu sein versuchte. Jedes Mal wenn er sah, wie Blue ihn nachäffte, schüttelte er grinsend den Kopf und erklärte jedem, der zufällig gerade zuhörte, dass der Junge eine echte Type sei.
Blade wollte zwar nicht wie sein Daddy sein, aber er wollte, dass sein Daddy ihn mochte , also versuchte er ab und zu, ihn ebenfalls nachzuahmen, so wie Blue das tat. Bei ihm funktionierte diese Taktik jedoch nicht so gut. Wann immer Blade Ras’ Gesten nachmachte, fragte Ras ihn, was er sich einbilde, was er denn glaube, wer er sei. Blade wusste nie eine Antwort auf diese Fragen, was nur wiederum bewies, dass Ras in Bezug auf seine Meinung über seinen ältesten Sohn schon immer recht gehabt hatte.
»Bist nicht gerade der Hellste, was, mein Junge?«
»Junge, du bist ja so blöd, dass es schon wehtut.«
»Blade, du bist so dumm, dass du’s nicht mal merkst.«
Als Ras über den Hof kam, standen Blade und Blue am Pferch und beobachteten Snowman durch die Lücken der hölzernen Umzäunung. Blade tat das Pferd furchtbar leid, was er jedoch niemals zugeben würde, denn nichts brachte Ras Ballenger so in Rage, wie wenn jemand, der so blöd war, dass es schon wehtat, Mitleid für ein Tier empfand, das er misshandelt hatte. Blade hatte schon einige Male miterlebt, was passiert war, wenn seine Mama es gewagt hatte, Mitleid zu zeigen.
Blue hatte nie Mitleid mit den Tieren. Im Gegenteil: Ras’ Methoden schienen ihm einen regelrechten Kick zu geben, und er machte mit, wann immer sein Daddy ihn ließ. Ras erlaubte ihm zwar nicht, sich an den Pferden zu schaffen zu machen, es sei denn, sie waren von zwei Seiten festgebunden,
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