Die Geschichte eines Sommers
denn Blue war klein und die verdammten Mistviecher konnten ihn verletzen, aber mit Katzen war das eine andere Sache. Die konnten niemanden verletzen, nicht mal ein kleines Kind, wenn sie in einem zugebundenen Jutesack steckten, was meistens der Fall war, wenn sie den Hunden zum Fraß vorgeworfen wurden. Sobald sich eine streunende Katze auf das Grundstück verirrte, gab Blue Ras Bescheid. Bei den Ballengers herrschte das Recht des Stärkeren, und mit seinen viereinhalb Jahren wusste Blue bereits ganz genau, wie man sich in dieser Welt behauptete.
Ras kam mit wiegenden Schritten zum Pferch, lehnte sich gegen die Umzäunung und starrte Snowman an, der bewegungslos dastand, um nur ja keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er war ein stolzes Pferd oder war es jedenfalls bis vor ein paar Wochen gewesen. Dieser Stolz hatte ihm viel Ärger eingebracht. Aber von einem Mann wie Ras Ballenger, der dreckige Deutsche, von denen viele nicht einmal Uniform trugen, mit einem Bajonett getötet hatte, konnte man wahrlich nicht erwarten, dass er sich von einem Pferd Frechheiten gefallen ließ. Die deutschen Zivilisten hatten ihn damals angefleht, sie zu verschonen – nicht dass es ihnen einen Dreck genützt hätte. Ras hatte es hingegen wahnsinnig amüsant gefunden, wie die zweibeinigen Tiere um Gnade bettelten.
Vierbeinige Tiere, jedenfalls Pferde, betteln nie. Fügt man einem Pferd Schmerzen zu, so gibt es drei Möglichkeiten. Entweder versucht es zu entkommen, oder es nimmt die Misshandlung hin und steht zitternd da, bereit, alles zu tun, was man von ihm verlangt, oder es versucht sich zu wehren.
Die meisten Pferde, mit denen Ras gearbeitet hatte, hatten zunächst versucht zu entkommen, waren dann aber rasch in den zitternden Zustand verfallen, in dem sie bereit waren, alles zu tun, was er von ihnen verlangte. Bei Snowman war es genau umgekehrt gewesen. Bis zu einem gewissen Grad war er bereit gewesen, zu tun, was Ras von ihm verlangte, doch als nichts, was er tat, gut genug war, und ihm alles, was er tat, eine Strafe einbrachte, hatte er beschlossen, sich zu wehren. Es hatte ihm zwar nicht mehr genützt als den dreckigen Deutschen ihre Bettelei, allerdings gab es zwischen ihnen und Snowman einen nicht unwichtigen Unterschied: Snowman war noch am Leben.
Ras Ballenger hatte nicht das Recht, das Pferd eines anderen Mannes zu töten, so wie er im Krieg geglaubt hatte, er hätte das Recht, die Menschen eines anderen Landes zu töten. Er konnte dieses Pferd nicht einfach mit einem Bajonett abstechen. Man musste einen sehr guten Grund haben, um das Pferd eines anderen ungestraft umbringen zu können. Beispielsweise dass man das Tier von einer entsetzlichen Qual erlösen würde, für die es kein Heilmittel gab. Oder aber man fand eine Möglichkeit, dass das Pferd ganz von alleine starb.
Jeder, der auch nur ein bisschen von Pferden versteht, weiß, dass die sicherste Methode, ein Pferd krepieren zu lassen, zugleich die einfachste ist. Man lässt einfach die Tür zur Futterkammer offen und fährt für den Tag in die Stadt, wenn gerade Morgen ist, oder geht ins Bett, wenn gerade Abend ist. Ein Pferd weiß nicht, wann es aufhören muss zu fressen, und kann sich auch nicht übergeben. In freier Wildbahn oder auf einer Weide ist das kein Problem. Dort bekommt das Pferd einen dicken Grasbauch oder eventuell heftigen Durchfall, doch Gott wusste genau, was er tat, als er Pferde zu Weidetieren machte. Die können den ganzen Tag umherstreunen und grasen, und es bringt sie nicht um. Stehen sie jedoch auf der Stelle und fressen fünfzig Pfund Mais oder Alfalfa, geht das Gelage tödlich aus.
Haben Pferde vor einem Menschen Angst, sehen sie ihm nicht in die Augen. So als dächten sie, die Gefahr wäre nicht da, wenn sie sie nicht sähen. Vielleicht aber können sie auch einfach den Stress nicht aushalten. Snowman wandte den Blick konstant von dem kleinen drahtigen Mann ab, der gegen den Zaun lehnte und ihn angrinste. Ras fing laut an zu lachen.
»Ist auch besser, wenn du wegguckst, du Mistvieh«, sagte er und gackerte.
»Besser, wenn weggucks, Mischvieh«, plapperte Blue nach.
Ras lachte wieder und erklärte Blue, er sei eine echte Type. Ob Blue nun wusste, was eine Type war, oder nicht, das kann nicht gesagt werden, jedenfalls blickte er seinen Daddy an und sagte: Nein, er sei eine Type. Wieder brach Ras in lautes Lachen aus, hob Blue hoch, setzte ihn auf den Zaun und deutete auf Snowman.
»Weißt du, was das ist?«, fragte er.
»Hottehü«,
Weitere Kostenlose Bücher