Die Geschichte eines Sommers
aufgepasst hast, wo du hingetreten bist?«
Swan zögerte gebührend lange, bevor sie antwortete. Es musste so aussehen, als würde sie es wirklich nur äußerst ungern zugeben.
»Deine Mohnblumen«, flüsterte sie reumütig.
Calla Moses raste um die Theke herum und war aus der Tür, bevor Swan auch nur blinzeln konnte. Für eine Frau ihres Alters war sie noch unglaublich schnell. Seit zehn Jahren versuchte sie Mohnblumen in ihrem Garten anzupflanzen, hatte aber nie Glück damit gehabt. Bis zu diesem Jahr. In diesem Jahr waren sie endlich gesprossen, gewachsen und blühten jetzt, und jeden Morgen ging Calla als Erstes hinaus, um sie anzusehen. Sie hatte sich sogar von Toy die Gartenbank in die Nähe stellen lassen, damit sie dort Kaffee trinken und sich an der Farbenpracht erfreuen konnte. Schweigend flitzte sie an Swan vorbei, aber man kann ja auch schlecht reden, wenn man sich auf die Zunge beißt.
Swan wartete, bis Calla um die Ecke des Hauses verschwunden war, und stieß dann einen leisen Pfiff aus. Auf das Zeichen hin schossen ihre Brüder aus ihrem Versteck und rannten in den Laden, während Swan hinter ihrer Großmutter herlief.
Als sie die andere Seite des Hauses erreichte, traf sie Oma Calla auf der Gartenbank an. Sie sah aus, als hätte sie eben noch geglaubt, einem Schlaganfall zu erliegen, und dann feststellen müssen, dass es nur eine Hitzewallung gewesen war.
»Den Mohnblumen geht’s doch gut«, sagte Oma Calla.
»Vielleicht waren es ja doch nur die Tigerlilien«, sagte Swan ausweichend.
»Eine Tigerlilie kriegt man kaum kaputt«, belehrte Oma Calla sie. »Die sind unverwüstlich. Deshalb wachsen sie auch immer noch in den Gärten von alten Häusern, deren Bewohner schon vor fünfzig Jahren ausgezogen oder gestorben sind.«
»Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, eine Tigerlilie mit einer Mohnblume zu verwechseln«, fügte sie nach einer Weile hinzu.
Sie blinzelte, als sie das sagte. Sie blinzelte misstrauisch.
»Wo ist denn die Kiste mit den Putzlumpen, die sonst immer unter der Theke steht?«, fragte Willadee Calla einige Zeit später. Sie lehnten an der Theke und aßen Sandwiches mit Erdnussbutter. Willadee war der Meinung, wenn man schon im Stehen aß, konnte man dabei auch ruhig etwas Nützliches tun.
Calla sah unter die Theke und stellte fest, dass die Kiste fort war.
»Das steckte also dahinter«, sagte sie. »Ich wusste doch, dass Swan Lake eine Tigerlilie von einer Mohnblume unterscheiden kann.«
Willadee fragte sie, wovon, um alles in der Welt, sie da rede, und Calla antwortete, sie wüsste es selbst nicht so genau, aber zumindest bräuchten sie sich keine Sorgen um die Kinder zu machen. Bei all dem Fasten und Beten und Lügen und Stehlen hätten sie wahrscheinlich keine Zeit, ernsthaft in Schwierigkeiten zu geraten.
Während Noble und Bienville Putzlappen um die Klöppel wickelten, borgte Swan sich noch drei Entenlockpfeifen aus, die sie zufällig beim Herumstöbern im Werkzeugschuppen entdeckt hatte. Mit Kuhglocken konnte man zwar ordentlich Krach machen, aber sie waren in keinster Weise mit Posaunen zu vergleichen, und Swan war der Meinung, dass die ganze Aktion authentischer wäre, wenn sie noch Blasinstrumente dabeihätten. Also verstauten sie die Entenlockpfeifen zwischen den zusammengeknüllten Lumpen in den Kuhglocken.
Der Spaziergang über die Weide war so ziemlich wie jeder andere Spaziergang über die Weide, nur waren die Kinder erheblich stiller als sonst. Allmählich wurde ihnen der Ernst dessen bewusst, was sie dabei waren zu tun. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Blade Ballenger musste gerettet werden, und außer ihnen war niemand dazu bereit.
Als sie den Bach erreichten, hockten sie sich hin und tranken aus der hohlen Hand, so wie sie sich vorstellten, dass es die Kinder Israels getan hatten. Beim Trinken waren sie besonders vorsichtig. Ihnen wurde klar, dass sie bisher noch nie etwas wirklich Gefährliches getan hatten – und dass es heute anders war.
Bienville wollte noch ein bisschen beten, bevor sie weitergingen, doch Swan erklärte ihm, er könne auch unterwegs beten.
»Das ist damit gemeint, wenn in der Bibel steht, dass man ohne Unterlass beten soll«, sagte sie. »Das heißt, dass man in Bewegung bleiben soll, während man es tut.«
Sie gingen ohne Pause, bis sie an das höher gelegene Ufer oberhalb des Schwimmlochs kamen, wo sie abrupt stehen blieben. Alle drei hatten plötzlich ein trockenes Gefühl im Mund.
»Oh nein«, flüsterte
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