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Die Geschichte von Zoe und Will

Die Geschichte von Zoe und Will

Titel: Die Geschichte von Zoe und Will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Halbrook
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Dad ist Hunderte von Meilen weit weg. Du musst so nicht werden.«
    »Aber so bin ich nun einmal.«
    »Das musst du nicht!«, wiederhole ich. Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Manchmal wollen Menschen nicht hören, was man ihnen zu sagen hat. Sie hat richtig gut zugehört, als ich ihr Dinge gesagt habe, die ich nicht so gemeint habe, aber jetzt, wo es wichtig und wahr ist, will sie mir nicht zuhören.
    Ich zwinge sie, aufrecht zu sitzen, wenn auch mit sanfter Gewalt, nehme ihre Handgelenke und drücke ihre Handinnenflächen auf meinen Mund. Ich hebe ihren Kopf und ihre Schultern und lehne sie an mich, damit ich sie nah bei mir weiß, damit sie meinen Herzschlag hört. Ich atme so gleichmäßig wie möglich, verlangsame das Tempo für sie. Ich hoffe bloß, dass ihr Herzschlag mit meinem langsamer wird, dass sie sich fängt oder zulässt, dass ich sie auffange.
    »Es war sehr mutig von dir, mit mir wegzulaufen, hörst du. Aus dem Fenster zu springen und mir zu vertrauen. Du bist ein Risiko eingegangen, ein großes Risiko. Allein, dass du hier bist, zeigt, wie stark du bist, wie sehr du nicht diese Person bist. Du bist nur eine Weile eingesperrt gewesen, aber jetzt bist du frei.«
    Ich habe keine Ahnung, ob sie mir zuhört, ob sie überhaupt irgendwas hört. Aber ich sage es trotzdem, weil ich will, dass sie weiß, wie stark sie ist. Das ist sie nämlich, wirklich.
    Ich will, dass sie es glaubt, auch wenn sie’s eh nicht glaubt.

ZOE
    ER FÄHRT AUF EINEN RASTPLATZ und schaltet den Motor aus. Ich reibe mir blindwütig übers Gesicht, weil es nicht fair ist, dass er sich so schlecht fühlt wegen Problemen, für die er überhaupt nichts kann. Es ist nicht seine Schuld, dass ich rückgratlos und schwach bin. Nicht seine Schuld, dass ich nicht herausgefunden habe, wie man die Art Mensch wird, die für sich eintritt und nicht zulässt, von allen anderen mit Füßen getreten zu werden.
    Ich höre ihn hinten im Wagen herumhantieren. Er legt eine Decke auf die Rückbank und klopft Kissen aus. Ich schlucke die Schwere in meiner Kehle hinunter und unterdrücke einen Schluckauf. Ich werde mich nicht bemitleiden. Das werde ich einfach nicht. Will hat sich solche Mühe gegeben, mich aus der Stadt zu bringen, aus dem Haus meines Dads, und er ist so geduldig mit mir. Ich sehe, dass er mich liebt, immer.
    Er hält zu mir. Hat er von Anfang an. Vor dem hier, bevor er mich gefragt hat, mit ihm wegzulaufen, war ich mir nicht sicher, wie lange Will in meinem Leben bleiben würde. Da das Schuljahr in ein paar Monaten endet, nahm ich an, er würde dann so schnell wie möglich abhauen, genau wie alle anderen, die nicht durch die Last ihrer Familien oder Armut an North Dakota gekettet waren. Ich nahm an, meine Zeit mit ihm wäre nichts weiter als eine süße Unterbrechung eines Lebens, das vom nie enden wollenden Missklang eines klirrenden Windspiels bestimmt war.
    »Komm her.« Er winkt mich zu sich, und ich verriegle die Türen und klettere zu ihm auf die Rückbank. Er hält mich so sanft und vollständig umschlungen, dass ich es wage, erneut in Tränen auszubrechen. Sein Geruch und seine Wärme spenden mir Trost, wie ein Zuhause das sollte. Seine Symphonie beruhigt mich.
    »Du weißt alles, was ich über meine Mom weiß. Jetzt erzählst du mir von deiner«, flüstert er.
    Flüchtig kommt mir in den Sinn, dass dies vielleicht seine Art ist zu vermeiden, über die Tüte mit Geld unter dem Vordersitz zu reden. Aber das ist nicht die Art, wie Will tickt. Ich schließe die Augen.
    Im Wagen ist es nach seinen Worten lange Zeit ruhig, während ich in Gedanken zusammentrage, was ich über sie sagen und was ich lieber vergessen möchte, die Wut und den Hass und die Liebe und den Schmerz, die die Erinnerung an sie umfassen und meinen Körper durchströmen. Wills Arme geben mir Halt.
    »Sie ist gestorben.«
    Er sagt nichts dazu, wartet ab.
    »Ich war sechs. Sie ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich das Genick gebrochen.«
    Ich drücke meine Wange gegen das Fenster, versuche mir einzureden, es sei ein blank polierter, harter Holzfußboden.
    »Sie hatte volle Lippen. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie von Natur aus so waren oder ob es daran lag, dass sie immer geschwollen waren. Ich habe nicht ihre Lippen. Ich habe die meines Dads, und manchmal macht es mir Angst, in den Spiegel zu schauen. Ich kann meinen Mund auf dieselbe Art verziehen wie er. Aber nie kann ich meinen Augen denselben Ausdruck verleihen wie er. In meinen scheint etwas

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