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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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voller Verzweiflung, daß ich eine so gute, so mütterliche Frau verloren habe. Diese Vision
     schlägt mich so in ihren Bann, daß es mir die Kehle zuschnürt. Ich fahre hoch, als sich eine feste, warme Hand – die der Toten!
     – auf meine Hand legt und eine Stimme mir ins Ohr flüstert: Hören Sie, Ralph, machen Sie nicht so ein Gesicht, vielleicht
     kommt heute gar kein Anruf.
    Nein, sie irrt sich nicht, ich habe mich selbst belogen, als ich meine Angst ihrem Tod zuschrieb. Ich sehe sie an. Es war
     eine völlig abwegige Vorstellung: mit mehr als sechzig Jahren ist Mutsch physisch tadellos in Form, ihre Wangen sind frisch,
     und die Augen leuchten. Die Kehle ist mir zugeschnürt, weil ich Helsingforths Stimme am Telefon erwarte.
    Ich lächle Mutsch und gleich darauf auch Stien zu, denn er ist eifersüchtig, der Alte. Es hat ihm keineswegs gefallen, daß
     sein »Schätzchen«, wie er sie deutsch nennt, ihre Hand auf meine legte. Im übrigen hat sie sie sofort wieder zurückgezogen,
     und ich selbst schweige nach meinem Lächeln. Die Cafeteria muß mit Abhöranlagen gespickt sein. Wie soll ich übrigens Mutschs |284| Bemerkung auslegen? Ich könnte wetten, daß sie nicht weiß und daß ihr auch niemand vom
Wir
gesagt hat, wer vergangene Woche während des Lunchs angerufen hat. Wahrscheinlich hat sie mir bei meiner Rückkehr an den Tisch
     am Gesicht abgelesen, wie stark mich der Anruf aufwühlte, und daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen. Aber warum dann diese
     hartnäckige Verärgerung während der ganzen Woche? Und warum heute diese Versöhnung?
    Als ich die Cafeteria verlasse, begegne ich im Korridor Mr. Barrow. Alle diese Begegnungen an dieser Stelle erfolgen gewiß
     nicht zufällig. Mr. Barrow verfügt in seinem Büro über einen Monitor, mit dem er die Tür zur Cafeteria überwacht. Jedenfalls
     kommt er mir aus seiner Höhle auf dicken Kreppsohlen geräuschlos entgegen.
    Der Schmierige, Fettige, Ölige, und ausgerechnet heute … Ganz sicher könnte man über Barrow ohne Schwierigkeiten ein Horrorgedicht
     oder einen Horrorfilm machen. Wenn dieser überdimensionale weiße Blutkörper sich mir nähert, habe ich immer den Eindruck,
     daß er mich wie ein Phagozyt verschlingen wird. Und während er mir in seiner seltsamen Art auf seinen Pseudofüßen entgegenrudert
     und sein riesiger, unförmiger Körper den engen Korridor ausfüllt, frage ich mich, ob er nicht durch das Verspritzen seines
     Zytoplasmas mich einkreisen, in seinem Fett ertränken und verdauen will. Dennoch bleibt er stehen, gut anderthalb Meter von
     mir entfernt – die prophylaktische Distanz; es hat den Anschein, daß er fürchtet, bei einer weiteren Annäherung vom Bazillus
     der Männlichkeit infiziert zu werden. Im übrigen ist mir bekannt, welche Angst er vor körperlicher Berührung mit seinesgleichen
     hat, sogar mit den A.s, die nun wirklich seinesgleichen sind. Als ich ihn so sehe, wie seine blaugrünen Augen mich auffordern,
     den Abstand zwischen uns nicht zu verkürzen, und seine Hängebacken schon von langatmigen Sätzen aufgebläht sind, muß ich eher
     an einen Kraken als an eine Amöbe denken. Ich finde es unerträglich, wie mich seine Knopfaugen abtasten, um eine durchlässige
     Stelle zu finden, aus der sich meine Gedanken heraussaugen ließen. Ich bin wie gelähmt. Ich komme mir vor wie eine Fliege,
     die sich in klebrigen Fäden verfangen hat.
    »Dr. Martinelli«, sagt Mr. Barrow – und wieder zieht mich diese Stimme in die Falle, ich sinke ein wie in Melasse –, »ich |285| habe von Helsingforth einen Anruf bekommen, mit dem sie mich von der Unmöglichkeit in Kenntnis setzt (er schreckt vor keiner
     Länge zurück), dieses Wochenende in Blueville zu verbringen. Helsingforth ließ mir gegenüber durchblicken«, fährt er mit diesen
     scheinbar wohlabgewogenen Formulierungen fort, die Hand in Hand mit Schwülstigkeit gehen, »daß sie höchstwahrscheinlich auch
     in der nächsten Woche nicht kommen kann, da besonders dringende Angelegenheiten sie in Washington zurückhalten, wo sie eine
     Reihe von Gesprächen mit der Ministerin für Gesundheitswesen, Volksbildung und Soziales zu führen hat.« (Er sagt nicht HEW,
     denn Abkürzungen liegen ihm nicht; eher neigt er dazu, alles in die Länge zu ziehen.)
    Dem fügt Mr. Barrow mit einem Lächeln, das seine Wangen wie Gelatine erzittern läßt, hinzu: »Ich dachte, Sie würden es gern
     zur Kenntnis nehmen.« Dann schweigt er mit komplizenhaftem Blick. Und während er

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