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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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sehr lauter Knall –; hingegen bin ich überrascht, wie langsam Audrey stürzt. Zuerst
     hatte ich überhaupt nicht mitbekommen, daß sie abgedrückt hatte. Ich sah nur ein Schwanken des Körpers, der Kopf fiel nach
     hinten, der Hals schwoll an, und die Lippen schnappten, begleitet von schrecklichem Schmatzen, fieberhaft nach Luft. Dann
     verdrehten sich die Augen, das Blut wich aus dem Gesicht. Und darauf der Fall. Ganz langsam, wie in Zeitlupe. Die Beine geben
     allmählich nach, der Körper fällt in einer leichten Drehbewegung in sich zusammen und schlägt, mit der Stirn zuerst, auf dem
     Boden auf, nicht heftig, eher mit einer gewissen Grazie. Und auch gewichtslos, wie eine Schärpe, die von einer Stuhllehne
     zu Boden gleitet und sich in sich selbst zusammenrollt.
    Helsingforth stößt einen herzzerreißenden Schrei aus, wirft sich vor dem Körper des Mädchens auf die Knie und dreht ihn um.
    »Doktor«, schreit sie mit verzweifeltem Gesicht. »Schnell, unternehmen Sie etwas!«
    Aber es ist nichts mehr zu machen. Sie müßte es wissen! Pro forma knie ich mich auf der anderen Seite vor Audrey nieder, schiebe
     ihren Pulli hoch und ermittle den Einschuß. Eigentlich brauche ich mein Ohr gar nicht zu nähern, aber ich tue es trotzdem,
     weil man es von mir erwartet. Ich erhebe mich, sehe Helsingforth an und schüttle den Kopf.
    Sie sagt kein Wort, umfaßt den zerbrechlichen Körper mit ihren kräftigen Armen, hebt ihn mühelos hoch und trägt ihn zum Rohrbett,
     wo sie ihn hinlegt. Dann bricht sie vor dem Bett zusammen, legt ihren Kopf neben den von Audrey – der im Vergleich wie der
     Kopf eines Kindes aussieht – und beginnt zu stöhnen.
    Es ist ein unheimliches Stöhnen, dessen Lautstärke bisweilen unerträglich ist. Fast wie eine Meute wilder Hunde, die alle
     gleichzeitig den Mond anbellen. Vorübergehend weichen die schrillen und heiseren Klangtöne einem deutlicheren Wehklagen, mehr
     oder weniger erkennbaren Worten, Satzfetzen, zärtlichen Rufen. Dann gehen die Laute wieder in tierischem Geschrei |309| unter, in dem eine so unstillbare Verzweiflung zum Ausdruck kommt, daß mir das Herz stockt. Helsingforths Gesicht ist erschlafft,
     eingesunken, aufgelöst, aus ihren halbgeschlossenen Augen strömen die Tränen. Ihre Lippen scheinen wie bei einer Maske der
     griechischen Tragödie zu einer Grimasse erstarrt zu sein.
    Dieser Maske entströmt unaufhörlich dasselbe nicht enden wollende Klagelied, dessen düsteres Echo von der verglasten Halle
     zurückgeworfen wird.
    Wenn ich diesen Zustand ihrer Entrücktheit nicht nutze, um mich anzuziehen und mich davonzumachen, so deshalb, weil ich fürchte,
     ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und sie auf mich stürzen zu sehen, wenn ich die Hände nicht frei habe. Nach dem Schuß
     hatte ich gehofft, die alarmierte Jackie auftauchen zu sehen. Aber nein, sie hat offenbar nichts gehört. Der Swimmingpool
     muß wohl doppelt oder dreifach verglast sein, aus Gründen der Wärmeisolierung, und der schwache Knall des Revolvers von kleinem
     Kaliber ist sicher nicht nach draußen gedrungen. Ich muß gestehen, daß mich auch der manische Charakter von Helsingforths
     Schmerz fasziniert und daß ich gleichzeitig dem dumpfen Erstaunen unterliege, das dem Unwiderruflichen in den ersten Minuten
     folgt. Mit weichen Knien setze ich mich auf den Hocker. Es gelingt mir nicht, mich von der Vorstellung zu befreien, daß es
     möglich sein müßte, das Geschehen rückgängig zu machen.
    Denn schließlich ist das Ganze absurd: es hat wie ein Spiel begonnen, kaum grausamer als ihre üblichen Spiele. Und es endet
     damit, daß ein Herz auf den Marmorfliesen verblutet.
    Stille tritt ein. Ich hebe den Kopf. Helsingforth steht neben dem Bett, auf dem Audrey liegt. Sie ist bewegungslos wie eine
     Statue, das Gesicht wie aus Stein, und sie blickt mich mit ihrem rechten Auge starr an.
    »Das ist Ihre Schuld«, zischt sie.
    »Aber ganz gewiß«, sagte ich, stehe auf und blicke sie mit Gefühlen der Wut und der Angst an. »Ich bin ja aus völlig freien
     Stücken hergekommen! Und Sie haben mich auch mit meinem völligen Einverständnis in Ihr Privatleben hineingezogen!«
    »So werden Sie sich nicht aus der Affäre ziehen!« sagt sie zischend mit leiser Stimme. »In Wirklichkeit haben Sie ein |310| teuflisches Spiel gespielt. Ich war im Begriff, Audrey zu überzeugen, daß sie ihr Vorhaben nicht ernst meinen konnte, und
     das wäre mir gelungen, wenn Sie sich nicht eingemischt hätten. Sie

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