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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Blatt.
    Ich will den schönen Augenblick nicht verderben, indem ich ihn in die Länge ziehe. Deshalb gehe ich wieder in mein Zimmer.
     Außer einer Tasche mit Aufzeichnungen soll ich nichts mitnehmen, deshalb habe ich bis neun Uhr nichts zu tun.
    Diese Dreiviertelstunde untätigen Wartens war das Schlimmste an meiner Flucht. Wenn ich Raucher gewesen wäre, hätte ich wenigstens
     die Möglichkeit gehabt, mich meinem geliebten Gift hinzugeben. Mit größter Wahrscheinlichkeit hätte ich dann nicht einmal
     gemerkt, daß ich rauche. Ich entscheide mich für das kleinste Übel: Anstatt im Zimmer auf und ab zu gehen, lege ich mich aufs
     Bett. Und dort überkommt mich nach wenigen Minuten eine Empfindung, die mich bis zum heutigen Tag in Erstaunen setzt. Meine
     Augen streifen durch das Zimmer, und ganz plötzlich spüre ich ein lebhaftes, fast stechendes Bedauern, es verlassen zu müssen.
    Dabei hat das Zimmer gar nichts Anziehendes an sich. Im Winter kalt und im Sommer zu heiß, sehr einfache Möbel, bescheidener
     Komfort, kärgliches Licht, das durch das einzige Fenster dringt, trostlose Aussicht auf Stacheldraht und die Baracken der
     Milizionärinnen. Und welche Erinnerungen verknüpfen |319| sich mit diesem Zimmer! Ein Bett, in dem ich mehr schlaflose Stunden, mehr Alpträume als erholsamen Schlaf kennengelernt habe.
     Ein kleiner Schreibtisch aus imitiertem Mahagoni, an dem ich oft gesessen und, ohne zu schreiben, ohne zu lesen, über die
     erfahrenen Demütigungen nachgesonnen, mich in Erwartung Anitas verzehrt oder angstvoll an die Zukunft gedacht habe. Und trotzdem
     war es eine Ecke, die ich für mich hatte! Die Höhle, in die ich mich verkroch, um meine Wunden zu lecken. Wenn ich sie jetzt
     aufgebe, lasse ich ein wenig von meiner Haut, von meinem Geruch, von meiner Wärme und einige Monate meines Lebens zurück.
    Als Bess und Ricardo um neun an meine Tür klopfen, hat mich fieberhafte Ungeduld gepackt, und ich bin froh, mich durch das
     Ritual ablenken zu können. In Erwartung dessen gieße ich Ricardo in der Küche das letzte Glas meines unverfälschten Whiskys
     ein. Dann gehe ich zu Bess in mein Zimmer, wo ich ihrem beruflichen Eifer wenig Beachtung schenke, selbst als sie sich über
     die Langsamkeit meiner Reaktionen beklagt, hinter der sie die »Konkurrenz« wittert. Als wir schließlich zu Ricardo in die
     Küche gehen, hole ich aus dem einzigen Wandschrank mit zitternden Händen die darin eingeschlossene Flasche Whisky, die Burage
     mir gegeben hat. Obwohl ich die Zusicherung bekommen habe, daß es nur harmloses Zeug ist, komme ich mir wie ein Giftmischer
     vor, als ich meinen Besuchern den mit einer Droge versetzten Alkohol eingieße. Und ich verwende ziemlich viel Zeit darauf,
     ihr Herz abzuhorchen und ihren Puls zu messen, nachdem sie am Tisch eingeschlafen sind.
    »Worauf warten Sie noch?« fragt Burage, als sie zur Küchentür hereingestürmt kommt, durch Perücke und Schminke nicht wiederzuerkennen.
     »Ziehen Sie Ricardo den Kittel aus und schlüpfen Sie hinein!«
    Nun folgt der einzig unsichere Moment der Flucht. Um halb zehn ist alles soweit: Burage am Steuer des Ford Transit; ich neben
     ihr, die weiße Haube bis in die Augen gezogen, zusammengesackt, als hätte mich der Alkohol fertiggemacht; hinten im Wagen
     Dave, von Kopf bis Fuß in Decken eingewickelt; rechts neben ihm der Kühlbehälter mit dem Serum und mit den Reagenzgläsern
     von Bess, die hoffentlich früher oder später dank dem Serum überflüssig werden.
    |320| Der weiße Lieferwagen hält am Fußende des Wachtturms. Es dämmert bereits, aber die Lagerlampen brennen noch nicht. Burage
     reicht der Wache unsere beiden Einlaßmarken, die die Milizionärin lange begutachtet, bevor sie, fast widerstrebend, unsere
     Ausweispapiere zurückgibt. Auf meinen Sitz gelümmelt, sehe ich die Milizionärin nur mit einem Auge, doch das reicht, um zu
     erkennen, daß dieses große, hagere Gestell mit Pickeln im Gesicht der Typ ist, Scherereien zu machen. Sie wirft einen überaus
     argwöhnischen Blick durch die Wagentür.
    »Warum sitzt der Chauffeur nicht am Steuer?«
    »Weil er betrunken ist«, sagt Burage mit schleppender, heiserer Stimme.
    »Warum?«
    »Ich kann den Kunden doch nicht verbieten, ihm was zu trinken zu geben«, sagt Burage in unglaublich echtem Tonfall.
    »Wer hat ihm etwas gegeben?« fragt die Milizionärin scharf.
    »Dr. Martinelli.«
    »Ich werde es melden«, sagt die Milizionärin bissig (sie kann mich offensichtlich

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