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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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»Wäre er fähig, Sie zu denunzieren, falls er nicht mitspielt?«
    »Oh, nein! Das brächte er nicht fertig!«
    »Also los, Doktor, wir können keine Zeit mit Skrupeln verlieren.«
    Burage macht den Eindruck, als ob sie Wort halten will. Während sie spricht, wahrt sie einen riesigen Abstand zwischen uns,
     in ihren beiden Eigenschaften: als vorbildliche Angestellte und als politischer Chef. Mir kommt es vor, als hätte ich es mit
     einer Puppe zu tun, die sich hinter einem Schaufenster von einem halben Zoll Dicke befindet. Nur daß man eine Schaufensterpuppe
     nicht atmen sieht. Und Burage atmet, was angesichts der Fülle ihres Busens nicht zu übersehen ist. Ein anderes vertrautes
     Anzeichen: das kaum merkliche Zittern ihrer Ohrringe. Burage, deine Ohrringe sind in mein Lager übergewechselt. Sie verraten
     dich zu meinen Gunsten. Das heißt »zu meinen Gunsten« ist etwas übertrieben. Aber es ist trotzdem angenehm, unter der Asche
     dieses Vulkans ein inneres Feuer schwelen zu sehen.
     
    Stien, mit dem ich mich am selben Tag nach dem Lunch bei Pierce verabredet habe, ist auf Anhieb mißtrauisch. Obwohl die Sonne
     scheint, wenn auch nur blaß, hat er in Johnnys Zimmer, in dem uns Pierce empfängt, seinen altmodischen schwarzen Mantel (er
     ist sehr lang und stammt vermutlich aus dem zweiten Weltkrieg) an – und seinen durchlöcherten Tirolerhut von verblichenem
     Grün, unter dem seine langen weißen Strähnen hervorgucken, aufbehalten. Obendrein in einen von Mutsch gestrickten dicken roten
     Wollschal gemummt, finde ich ihn in Joan Pierces Schaukelstuhl sitzen oder vielmehr liegen. Er schaukelt wütend auf und nieder
     und schimpft gleichzeitig auf die Grippe, die ihn gepackt hat, und auf die Wirkungslosigkeit meiner Therapie. Mit seinem tief
     ins Gesicht gezogenen Hut und seinem Schal, der sogar die Ohren noch bedeckt, sieht er aus wie eine große Schildkröte, die
     mit ihrem runzligen Kopf und ihren mißtrauischen kleinen Augen aus ihrem Panzer herauslugt und bereit ist, das alles beim
     geringsten Anzeichen einer Gefahr einzuziehen.
    Sicher, ich treffe jede erdenkliche Vorsichtsmaßregel. Ich leite mein Ersuchen mit einer ausgeklügelten
captatio benevolentiae
ein. Es handele sich von meiner Seite nicht um billige |187| Neugierde. Schon gar nicht um persönliche Neugierde. (Pierce wirft mir einen beunruhigten Blick zu: sie findet, daß ich zuviel
     sage.) Aber wenn man letzten Endes unter solchen Bedingungen lebt wie wir (»konzentrationslagerähnlich«, wie er selbst sagte)
     und jeglicher Informationsmöglichkeit beraubt ist, gewinnt jede Information, über die einer von uns verfügt und die er an
     den anderen weitergeben kann, unschätzbaren Wert … und so weiter.
    Stien läßt mich reden, ohne piep zu sagen; aus seinen von den faltigen Lidern halb verdeckten kleinen blauen Augen wirft er
     abwechselnd auf Joan Pierce und mich kurze, wütende Blicke. Er schaukelt pausenlos, was mein Unbehagen erhöht, und das weiß
     er, denn er kennt meine Idiosynkrasien. Je länger ich spreche, um so mehr kriecht er in seinen Wollschal und seinen Hut hinein,
     zieht seine Schultern hoch und zieht sich von Kopf bis Fuß in sich zusammen. Seine wachen Augen belauern mich ohne den geringsten
     Schimmer von Sympathie. Je weiter ich mich vorwage, um so mehr fühle ich, daß ich einer Niederlage entgegengehe.
    »Bist du fertig?« fragt Stien und hält den Schaukelstuhl an. »Ja.«
    »Dann hör zu.«
    Er niest nach diesen Worten, zieht ein Taschentuch hervor und fällt zwischen zwei Niesern über die Ärzte her: eine Kaste überheblicher
     Nichtskönner, die sich anmaßen, Herzen zu verpflanzen, aber nicht einmal imstande sind, einer Grippe vorzubeugen oder sie
     zu heilen.
    Er schneuzt sich abermals herausfordernd laut und verächtlich, spuckt aus, wischt sich den Mund und läßt einen Vortrag vom
     Stapel, der einer pauschalen Anklage gegen mich gleichkommt: gegen meine moralische Einstellung, mein Wesen, meine Haltung,
     meine Unbesonnenheit, meine »grobschläch tige und unersättliche Libido«, meine angeborene Unvorsichtigkeit, meine erneut unter Beweis gestellte Unfähigkeit, ein Geheimnis
     zu wahren, alles in allem, gegen meine »unverbes serliche Verantwortungslosigkeit«.
    Obwohl ich an diese Art Rhetorik gewöhnt bin und bei Stien stets einen Prozentsatz chronischer Erregbarkeit und Komödienspielerei
     in Rechnung stelle, finde ich diesmal, daß er zu weit geht, vor allem in Joans Gegenwart, die vor Staunen

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