Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)
auch darüber viel Seltsames vorerzählt?«
»Nein,« sagte Mangogul, »alle stimmten so ziemlich darin überein, daß ihr Wohnsitz der Kopf sei, und diese Meinung schien mir wahrscheinlich. Der Kopf denkt, dichtet, überlegt, urteilt, ordnet, befiehlt; und man hört alle Tage von einem Menschen, der nicht denkt, daß er kein Hirn habe, daß es ihm an Kopf fehle.«
»Das also,« erwiderte die Sultanin, »ist Ihrer langen Studien und Ihrer ganzen Philosophie kurzer Sinn, daß Sie die bloße Vermutung einer Tatsache mit alltäglichen Redensarten zu stützen suchen? Gnädigster Herr, was würden Sie von Ihrem ersten Geographen sagen, wenn er Ihrer Hoheit die Karte Ihrer Staaten vorlegte und Osten mit Westen oder Süden mit Norden vertauschte?«
»Der Irrtum wäre zu grob,« erwiderte Mangogul, »den hat noch kein Geograph begangen.«
»Das mag sein,« versetzte die Favorite, »also waren Ihre Philosophen ungeschickter, als der allerungeschickteste Geograph es sein kann. Sie hatten kein großes Reich aufzunehmen, sie brauchten nicht die Grenzen der vier Weltteile bestimmen, sie sollten nur in sich selbst hinabsteigen und den wahren Sitz ihrer Seele erforschen. Sie aber nennen Osten Westen und Süden Norden. Sie verkünden, daß die Seele im Kopfe sitze, während die meisten Menschen sterben, ohne daß die Seele diesen Aufenthalt genommen hat, da sie immer noch ihren ersten Wohnsitz innehat, nämlich in den Füßen.«
»In den Füßen?« unterbrach sie der Sultan. »Das ist der sonderbarste Gedanke, der mir jemals vorgekommen ist.«
»Jawohl, in den Füßen,« erwiderte Mirzoza; »und diese Meinung, die Ihnen so närrisch dünkt, braucht nur tiefer begründet zu werden, um für vernünftig zu gelten. Gerade umgekehrt verhält es sich mit den Meinungen, die Sie für wahr annehmen, und die man für falsch erkennt, wenn man sie tiefer ergründet. Ihre Hoheit gaben mir eben zu, das Dasein unserer Seele gründe sich nur auf das innere Zeugnis, das sie sich von sich selbst gibt, und ich will Ihnen beweisen, daß alle erdenklichen Gefühle an der Stelle zustande kommen, die ich ihr anweise.«
»Das bin ich begierig zu hören,« sagte Mangogul.
»Ich verlange keine Schonung,« fuhr sie fort. »Ich bitte Sie alle, mir Ihre Bedenken zu äußern. Also, wie gesagt, der erste Wohnsitz der Seele sind die Füße. Dort beginnt ihr Dasein, denn durch die Füße geht sie in den Körper über. Ich berufe mich mit dieser Tatsache auf die Erfahrung und lege vielleicht in diesen meinen weiteren Ausführungen den Grund zu einer Experimental-Metaphysik.
Wir alle erfuhren in unsrer Kindheit, daß die unentwickelte Seele ganze Monate hindurch in einem Zustande des Schlafes verweilt. Unsre Augen öffnen sich, ohne zu sehn, unser Mund, ohne zu reden, unsre Ohren, ohne zu hören. Die Seele regt sich und erwacht an einer ganz andern Stelle. Ihre ersten Kräfte zeigen sich an andern Gliedern. Durch die Füße verkündigt das Kind seine Ausbildung. Leib, Kopf und Füße ruhn unbeweglich im Schoß der Mutter. Aber seine Füße werden lang und beweglich und offenbaren sein Dasein, vielleicht seine Bedürfnisse. Rückt die Stunde der Geburt heran, was würde aus Kopf, Leib und Armen werden? Sie blieben ewig in ihrem Gefängnisse, wenn die Füße ihnen nicht zu Hülfe kämen. Hier spielen die Füße die Hauptrolle und treiben den übrigen Leib hinaus. Dies ist die Ordnung der Natur, und will irgendwo ein andres Glied befehlen, tritt zum Beispiel der Kopf an die Stelle der Füße, so geht alles verkehrt, und Gott weiß, was dann zuweilen aus der Mutter und dem Kinde wird.
Ist das Kind geboren, so bewegen sich wiederum an ihm vorzüglich die Füße. Man wird genötigt, sie zur Ruhe zu bringen, und dabei bezeigen sie sich immer etwas widerspenstig. Der Kopf ist ein Klotz. Aus ihm macht man, was man will. Aber die Füße fühlen, schütteln das Joch ab und scheinen die Freiheit verteidigen zu wollen, die man ihnen raubt.
Kann das Kind endlich stehn, so strengen die Füße sich auf tausenderlei Art an, um sich fortzubewegen. Sie setzen alles in Tätigkeit. Sie befehlen den andern Gliedmaßen. Und die gehorsamen Hände stützen sich gegen die Wand und halten sich vor, um einen Fall zu vermeiden und den Fortschritt der Füße zu erleichtern.
Worauf richten sich alle Gedanken eines Kindes, was sind seine Vergnügungen, wenn es sich fest auf den Beinen fühlt und seine Füße die Geschicklichkeit erlangt haben, sich zu bewegen? Es übt sich im Gehen, im
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