Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)
Kommen, im Laufen, im Springen, im Hüpfen. Diese Unruhe gefällt uns, wir halten sie für ein Zeichen des Verstandes und erklären ein Kind für einfältig, wenn wir es träge und traurig sehn. Wollen Sie ein vierjähriges Kind betrüben, so lassen Sie es eine Viertelstunde lang sitzen, oder halten es zwischen vier Stühlen gefangen. Dann wird es verdrießlich und ärgerlich. Denn Sie berauben damit nicht bloß die Beine ihrer Bewegung, Sie kerkern auch seine Seele ein. Bis ins zweite oder dritte Jahr bleibt die Seele in den Füßen. Im vierten steigt sie in die Beine. Im fünfzehnten kommt sie in die Knie und Lenden. Dann mag man tanzen, fechten, wettrennen und andere heftige Leibesbewegungen gern leiden. Das ist die herschende Leidenschaft aller jungen Leute. Bei einigen steigert sie sich bis zur Raserei. Und die Seele sollte nicht an der Stelle wohnen, wo sie sich fast allein offenbart, wo sie ihre angenehmsten Empfindungen erfährt? Wohnt sie aber in der Jugend an einem andern Ort, als in der Kindheit, warum sollte sie nicht das ganze Leben lang ihren Wohnsitz ändern?«
Mirzoza hatte dieses alles so geschwinde hergesagt, daß sie fast darüber außer Atem gekommen war. Selim, ein Günstling des Sultans, benutzte den Augenblick, wo sie Luft schöpfte, und sprach zu ihr: »Gnädige Frau, ich mache von Ihrer gütigen Erlaubnis, Einwände zu äußern, hiermit höflichst Gebrauch: Ihr System ist geistreich. Sie haben es eben so anmutig als klar vorgetragen. Aber so sehr hat es mich doch nicht verführt, daß ich es für erwiesen annehmen sollte. Mir scheint, man könne Ihnen sagen, daß selbst in der Kindheit der Kopf den Füßen befehle, und daß von dort aus sich die Geister mit Hilfe der Nerven in alle Glieder verbreiten, sie anhalten oder bewegen, nach Willkür der Seele, die auf der Zirbeldrüse sitzt. Gleichermaßen, wie man von der Hohen Pforte die Befehle des Großherrn ausgeben sieht, die alle seine Untertanen in Bewegung setzen.«
»Das kann man freilich,« erwiderte Mirzoza, »aber man würde damit eine sehr dunkle Sache behaupten, auf die ich mit einer Tatsache der Erfahrung antworten möchte: Kein Kind weiß mit Gewißheit, daß sein Kopf denkt, und selbst Sie, edler Herr, so tüchtig der Ihrige auch ist, und obwohl Sie bereits im zartesten Alter für ein Wunder von Verstand galten, entsinnen Sie sich vielleicht, damals gedacht zu haben? Aber dessen können Sie sich wohl versichert halten, daß, als Sie mit Ihren Füßen zur Verzweiflung Ihrer Gouvernanten wie ein kleiner Satan strampelten, eben diese Füße den Kopf regierten.«
»Das beweist gar nichts,« sagte der Sultan. »Selim war lebhaft, wie es tausend Kinder sind. Sie überlegen nicht, aber sie denken. Die Zeit verfliegt, das Gedächtnis verliert sich, sie erinnern sich nicht mehr gedacht zu haben.«
»Aber womit dachten sie?« versetzte Mirzoza. »Das ist die Frage.«
»Mit dem Kopf,« antwortete Selim.
»Gehen Sie mir mit diesem Kopfe, an dem man gar nichts sieht,« erwiderte die Sultanin. »Lassen Sie diese Blendlaterne, die nur für den ein Licht hat, der sie trägt. Hören Sie meine Erfahrung und bekehren Sie sich zur Wahrheit meiner Hypothese. Es ist so ausgemacht, daß die Seele ihre Wanderschaft durch den Körper bei den Füßen beginnt, daß es Männer und Weiber gibt, in denen sie niemals höher stieg. Edler Herr, Sie haben tausendmal Ninis Leichtigkeit und Saligos Sprünge bewundert. Antworten Sie mir offenherzig, glauben Sie, daß diese Geschöpfe ihre Seele anderswo haben als in ihren Beinen? Haben Sie nicht selbst bemerkt, daß Volucers und Zelindors Kopf den Füßen untergeordnet ist? Ein Tänzer hat beständig Lust, auf seine Beine zu sehn. Er tut keinen Schritt, bei welchem nicht das Auge die Spur des Fußes aufmerksam verfolgt. Sein Haupt neigt sich so ehrfurchtsvoll vor seinen Füßen, als die unüberwindlichen Paschas vor Seiner Hoheit.«
»Diese Beobachtung ist richtig,« sagte Selim, »aber sie trifft nicht immer zu.«
»Ich behaupte ja auch nicht,« erwiderte Mirzoza, »daß die Seele immer in den Füßen wohnt. Sie dringt weiter, sie wandert umher, sie verläßt einen Teil, kehrt dahin zurück, verläßt ihn wieder. Aber das behaupt’ ich: alle andern Teile sind dem Teile untergeordnet, den sie bewohnt. Das ändert sich je nach den Jahren, nach dem Temperament des Bluts, nach den Umständen. Daher entsteht die Verschiedenheit des Geschmacks, der Neigungen, der Eigenschaften. Bewundern Sie nicht die
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