Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Titel: Die geschwätzigen Kleinode (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Diderot
Vom Netzwerk:
sich, mein Herr,« antwortete Ricarie dem Selim. »Die Akademie ist noch das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihr goldnes Zeitalter bietet uns weder Philosophen noch Dichter, denen wir nicht Philosophen und Dichter entgegenzusetzen hätten. Unsre Schaubühne galt für die erste in Afrika und kann noch dafür gelten. Welch ein herrliches Werk ist der Tamerlan des Tuxigraph! Er vereinigt das Pathos des Eurisop mit Asofs Erhabenheit. Das ist reinstes Altertum.«
    »Ich war bei der ersten Vorstellung Tamerlans zugegen,« sagte die Favorite, »und fand, wie Sie, das Stück wohlgeführt, die Sprache zierlich und die Regeln gut beobachtet.«
    »Wie groß ist der Unterschied, gnädige Frau,« sagte Ricarie, »zwischen einem Dichter wie Tuxigraph, der sich durch die Schriften der Alten nährte, und den meisten Neueren!«
    »Aber diese Neueren,« sprach Selim, »denen Sie hier nach Herzenslust hohnsprachen, sind nicht so verächtlich, wie Sie meinen. Können Sie Ihnen Geist, Erfindung, Feuer, seine Züge, Charakter, Sentenzen absprechen? Was kümmern mich die Regeln, wenn man mir nur gefällt? Gewiß sind es nicht die Regeln des weisen Almudir und des gelehrten Abaldok, noch die Dichtkunst des erfahrnen Farcadin, die ich nie gelesen habe, um derentwillen ich Abulcassems, Mubardas, Albabukers und andrer Sarazenen Stücke bewundere. Gibt es eine andre Vorschrift als die Nachahmung der Natur? Und haben wir nicht die nämlichen Augen, wie die, welche sie studierten?«
    »Die Natur,« antwortete Ricarie, »zeigt sich uns jeden Augenblick von einer andern Seite. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich schön. Gerade aus den Schriftstellern, auf die Sie keinen großen Wert zu legen scheinen, muß man lernen, die Wahl zu treffen. Sie sammelten ihre Erfahrungen und die Erfahrungen ihrer Vorgänger. Wenn man noch so viel Verstand hat, so sieht man doch nur einen Gegenstand nach dem andern, und ein Mensch darf sich nicht schmeicheln, in der kurzen Spanne seiner Lebenszeit alles zu sehen, was man in den Jahrhunderten entdeckte, die ihm vorangingen. Sonst müßte man annehmen, eine einzige Wissenschaft dürfe ihre Entstehung, ihre Fortschritte und ihre ganze Vollkommenheit einem einzigen Kopfe verdanken. Dawider streitet die Erfahrung.«
    »Herr Ricarie,« versetzte Selim, »aus Ihren Schlüssen folgt weiter nichts, als daß die Neueren, die die Schätze genießen, welche man bis auf ihre Zeit zusammenbrachte, reicher sein müssen als die Alten: oder daß, mißfällt Ihnen dieser Vergleich, wer auf den Schultern des Riesen steht, weiter sehen müsse als der Riese. Und in der Tat, was ist ihre Naturlehre, ihre Sternkunde, ihre Schiffahrt, ihre Mechanik, ihre Rechenkunst gegen die unsrige? Und warum sollten auch unsre Beredsamkeit und unsere Dichtkunst nicht den Vorrang besitzen?«
    »Den Grund dieses Unterschiedes, Selim,« antwortete die Sultanin »wird Ihnen Ricarie ein andermal darlegen. Er wird Ihnen sagen, warum unsre Trauerspiele denen der Alten nachstehen. Daß dem also sei, soll mir leicht fallen, Ihnen zu zeigen.« »Nicht,« fuhr sie fort, »als ob ich Ihnen den Vorwurf machen wollte, die Alten nicht gelesen zu haben. Sie haben einen viel zu gebildeten Geist, als daß ihre Schaubühne Ihnen unbekannt wäre. Setzen Sie nur gewisse Begriffe beiseite, die auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten und ihre Religion Bezug haben, und die Sie nur stören, weil sich die Umstände geändert haben: und gestehen Sie, daß ihre Stoffe edel, gut gewählt und anziehend sind; daß sich die Handlung gleichsam durch sich selbst entwickelt, daß ihre einfache Sprache der Natur sehr nahekommt, daß die Auflösung ungezwungen, das Interesse nicht geteilt und die Haupthandlung nicht mit Nebenhandlungen überladen ist. Versetzen Sie sich im Geist auf die Insel Alindala, beobachten Sie alles, was dort vorgeht, hören Sie alles, was dort gesprochen wird von dem Augenblicke an, wo der junge Ibrahim und der listige Forfanti ans Land treten; nähern Sie sich der Höhle des unglücklichen Polipsil; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen und sagen Sie mir dann, ob Sie irgend etwas aus der Illusion reißt? Nennen Sie mir ein neueres Stück, das die nämliche Prüfung besteht, das dieselbe Prüfung aushalten und auf einen gleichen Grad von Vollkommenheit Anspruch machen könnte, und ich will mich für besiegt erklären.«
    »Beim Brahma!« rief der Sultan gähnend aus, »Madam hat eine akademische Vorlesung gehalten!«
    »Ich verstehe mich nicht auf

Weitere Kostenlose Bücher